Der ganzheitliche Aspekt der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)
Zhi Chang Li wuchs in der Tradition der chinesischen Medizin und des Qi Gong auf, die ihm bereits von seinen Großeltern und Eltern vermittelt wurde.
Er arbeitete viele Jahre lang als Akupunktur-Arzt in Peking. Seit 1989 lebt er in Europa, wo er das Institut für das Stille Qi Gong in München gründete.
Die Traditionelle Chinesische Medizin fordert uns auf, die Natur und ihre Gesetze kennen zu lernen, sie zu beobachten und sie zu achten. Die Erde und alles Materielle werden in der chinesischen Philosophie als Yin bezeichnet, der Kosmos und alles Immaterielle sind Yang. Bezogen auf den Körper ist jedoch das Innere Yin, und das Äußere ist Yang; die Rückseite ist Yin und die Vorderseite Yang; der untere Teil des Körpers ist Yin, der obere ist Yang; das, was nach oben fließt, hat Yang-Qualität, fließt es von oben nach unten handelt es sich um die Yin-Qualität.
Um den Körper im Gleichgewicht zu halten, müssen die Gesetze des Äußeren und des Inneren beachtet werden. Zum Äußeren, also zum Yang, zählen auch die Landschaft, das Klima, die Kultur, die Religion, das Wetter, die soziale und politische Umgebung und, wie bereits erwähnt, das Immaterielle des Menschen, nämlich Geist und Seele.
Yin und Yang sind untrennbar miteinander verbunden, fließen ineinander, eines geht aus dem anderen hervor, das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Das wird in dem bekannten chinesischen Symbol, dem Yin- und Yangzeichen, anschaulich dargestellt.
Nur, wenn sich Yin und Yang im Gleichgewicht befinden, ist der Mensch in seiner Gesamtheit in Harmonie und somit gesund. Dieses ganzheitliche Verständnis der Welt und des Menschen führt zu einer ganzheitlichen Medizin, die dem Menschen Verantwortung auferlegt für die eigene Gesundheit und für seine Umgebung. Sie vermittelt Wissen über das, was den Körper gesund erhält, macht jedoch den Körper und die Materie nicht zur alleinigen Ursache von Gesundheit oder Krankheit.
Die Traditionelle Chinesische Medizin verweist ebenso auf den Geist und fordert auf, ihn zu entdecken, ihn zu schulen, ihn zu nutzen, auch das Unergründliche, das Unbeweisbare, das Metaphysische zu erforschen. Das Metaphysische gehört wie das Physische zur Natur und ist nicht in sich dunkel, geheimnisvoll und unverständlich, ist nicht gefährlich oder nur für wenige Auserwählte reserviert. Dem Menschen ist die Aufgabe zugedacht, sich auf den Weg nach innen zu begeben, um das scheinbar Unergründliche zu erforschen und zu entdecken.
Für Gesundheit oder Krankheit ist also nicht allein das Yin, der Körper, von Bedeutung, sondern ebenso das Yang, die äußere Welt und der innewohnende Geist.
Der Weg nach innen, hin zu den zunächst verborgenen Ebenen, macht den Menschen erst vollständig und somit gesund. Dieser Weg muss bewusst beschritten werden. Das geschieht in den Übungen des Stillen Qi Gong. Der Kontakt nach außen wird zurückgenommen. Das wird ‚das Kappen der 6 Sinne‘ genannt. Das äußere Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und das Bewusstsein ziehen sich von der äußeren Welt zurück, um das Innere zu erfahren. In diesem Zustand, vergleichbar mit dem des Embryo, erleben wir Stille. Unser Geist erholt sich und aus der Tiefe der Stille entsteht Bewegung, entstehen Gedanken; die Gedanken werden realisiert und in fassbare Materie verwandelt.
Aus der Stille des Yin entsteht Yang, das Ungreifbare, der Geist. Aus ihm wiederum entsteht Materie, das Yin. Das ewig sich wandelnde, aufsteigende, sich öffnende, absteigende und wieder sich schließende Rad ist das Geheimnis des Lebens.
Durch den Kontakt nach innen wird außerdem erfahrbar, dass alles, was wir außen wahrnehmen, auch im Innern existiert, dass es also zwischen der inneren und der äußeren Welt keine Trennung gibt. Der Taoismus lehrt, dass wir eins sind, nicht getrennt.
Laotse schreibt im Tao Te King, 39. Kap. Vers 18:
Alles muss in seiner wesenhaften Einheit bleiben;
Wer seinen Wagen zerlegt,
hat keinen Wagen mehr.
Bleiben wir in der Einheit, können wir atmen wie ein Baum oder eine Schildkröte, können uns wiegen wie ein Bambus, lernen fliegen wie ein Kranich. Wir können auch durch das vollkommene Wesen eines wahren Meisters, wie Jesus oder Buddha, unser reines Wesen erkennen und schulen. Das Vorbild erinnert uns, wie wir in unserem Ursprung sind, wir werden zu ‚Pu‘, dem Zustand des lächelnden Kindes, rein und unverformt.
Eine Medizin, die sich nur dem Körper zuwendet, befasst sich einseitig mit dem Yin-Aspekt des Lebens. Wird jedoch das Yang, Geist und Seele des Menschen, mitberücksichtigt, d.h., werden die Ursachen von Krankheit auch im Geist des Menschen und in seinem Seelenzustand gesucht, entsteht eine ganzheitliche Medizin.
Das Yin- und Yangzeichen verdeutlicht, dass das, was wir als Gegensätze wahrnehmen, in Wahrheit untrennbar eins und miteinander verbunden ist. Das Immaterielle ist nicht vom Materiellen zu trennen, Innen und Außen, Soma und Psyche sind eins.
Ein Blick auf die 5 großen Organe mag dies verdeutlichen:
- Beginnen wir mit den Nieren, die wie die Blase dem Element* Wasser zugeordnet sind. Sie tragen die Ur-Essenz, die ursprüngliche Lebenskraft, chinesisch ‚Jing‘ genannt. Angst, Stress, Schock, Traumen aller Art reduzieren die ursprüngliche Lebenskraft. Da jeder Mensch Zustände von Angst und Furcht erlebt, werden die Nieren im Laufe der Jahre geschwächt.
Das wirkt sich auf das Herz aus, denn nach der TCM steht das große Yin der Nieren in unmittelbarer Verbindung mit dem großen Yang des Herzens. Das Wasser der Nieren, wenn ausreichend vorhanden, kann nach oben verdampfen und so das Feuer des Herzens kühlen. Das Herz, von zu viel Hitze befreit, kann klar scheinen und die Nieren erwärmen. Nieren und Herz, ‚das untere und das mittlere Dantien‘** geben sich die Hand, Bauch und Brustraum umarmen sich.
Werden die Nieren gestärkt, sei es durch Übungen des Qi Gong oder durch Kräutermedizin oder durch richtige Ernährung und richtiges Verhalten oder durch Akupunktur – die Angebote der chinesischen Medizin sind zahlreich –, kann das Herz leicht und ruhig werden. Dadurch wird der Geist ruhig und klar, und wir werden fähig, den Lebenssituationen ohne Angst vor Gefahren entgegenzusehen.
Können wir furchtlos sein, haben wir gute Möglichkeiten, dass sich Krankheiten bessern, dass wir spontan und schöpferisch sind, dass wir Verantwortung für unser Tun und Lassen übernehmen und Kraft speichern können.
Ist der Geist klar und stark, kann er mit Hilfe des Qi Materie durchdringen und Blockaden, also Festgehaltenes, das sich nicht mehr wandelt und infolge dessen krank macht, auflösen und wieder in Fluss bringen. Der klare, ruhige Geist bringt das Qi, die Vitalkraft, hervor. Die Yang-Qualität des Qi wirkt stärkend auf das Blut, das Yin-Charakter hat. Qi, angeregt durch den Geist, strömt durch die Meridiane, die unsichtbaren Körperstraßen, harmonisiert die Organkreisläufe des Körpers und stabilisiert dadurch auch die Psyche.
- Die Leber wird wie die Gallenblase dem Element Holz zugeordnet. Sie sorgt dafür, die zirkulierende Blutmenge, je nach Bedarf des Körpers, zu regulieren und den freien Qi-Fluss zu ermöglichen. Dadurch können wir körperlich und geistig wachsen, können stark und flexibel sein, können uns ausbreiten und realisieren. Wird das Leber-Qi zu wenig genährt, zum Beispiel durch zu schwaches Nieren-Qi, kommt es zu Stauungen im Bereich der Leber. Dies kann dazu führen, dass die Energie der Leber nach oben steigt und sich als Schwindel, Kopfweh oder Bluthochdruck äußert. Erfahren wir ständige Einschränkungen, Verbote oder Kontrollen in unserem Handeln, führt das zu Ärger, Aggression, Groll, Reizbarkeit und dadurch ebenfalls zu Stagnation von Leber-Qi. Dann wendet sich die Kraft dieses Organs nach innen und kann zu innerer Aggression und selbstzerstörenden Krankheiten führen.
Umgekehrt bewirkt das gleichmäßige Fließen des Leber Qi, dass die Gefühle harmonisch ausgeglichen sind und Gefühlstaus vermieden werden, die wiederum die Leber schädigen würden.
- Das Herz wird wie der Dünndarm dem Element Feuer zugeordnet. Das Herz reguliert den Blutkreislauf in den Gefäßen und hat die Aufgabe, Qi aus der Nahrung ins Blut umzusetzen. Es übernimmt im Körper die Aufgabe, die der Sonne im Universum zukommt. Die Sonne des Herzens bestrahlt unseren Körper und unser Leben. Das Herz ist nach der chinesischen Medizin der Sitz des Geistes und der Freude. Wenn das Herz Geist (Chinesisch: ‚Shen‘) trägt, kann sich die Persönlichkeit auf gesunde Weise entfalten. Wird der Geist getrübt, kann sich dies in Unruhe, Schlafstörungen, Gedächtnisstörungen, auch Herzrhythmusstörungen u.a. äußern. Wie oben bereits dargelegt, sind die Nieren für den Zustand des Herzens mitverantwortlich.
Ein Prinzip der TCM lautet, dass unten Fülle, oben Leere sein soll. Ist also ‚der untere Dantien‘, d.i. die Mitte des Unterbauches, in dessen Bereich die Nieren liegen, prall mit Qi gefüllt, kann ‚der mittlere Dantien‘, der Bereich des Herzens, klar sein und weit wie ein Tal. Dann sind das Rückenmark und das Gehirn und somit das gesamte Nervensystem ebenso gestärkt, so dass der Kopf, das ist ‚der obere Dantien‘, leicht und frei werden kann.
Das Herz kann aber auch durch zu viel Herzfeuer, d.h. durch einen Überschwang der Gefühle, Schaden nehmen. Dann findet der Mensch nicht die Mitte in der Freude, im Lachen und im Glücklichsein und gerät auf diesem Weg in Disharmonie.
- Die Milz, auch der Magen, gehören dem Element Erde an, der Erde als Mutter, als Ernährerin, als Mitte, um die sich alles dreht. Wie die Erde, sollte auch die Milz nicht zu feucht sein. Sie wandelt nach der TCM Körpersäfte um und transportiert sie durch den Körper. Ist die Milz geschwächt, was meist aufgrund falscher Ernährung geschieht, sammeln sich im ganzen Körper Flüssigkeiten an. Das führt zu Ödemen, Fettleibigkeit und/oder Schleimbildung.
Nach der chinesischen Medizin ist eine zu feuchte Milz Ursache für zu viel sorgenvolles Denken bis hin zu Schwermut. Müdigkeit, Lethargie, Zerstreutheit oder Konzentrationsschwäche weisen auf eine geschwächte Milz hin. Eine ausgeglichene Milz sorgt für eine gut geerdete Mitte, die auch den Magen ins Gleichgewicht bringt, so dass die Nahrung gut aufgenommen und verdaut wird, was wiederum das Qi und das Blut nährt.
- Die Lunge gehört mit dem Dickdarm zum Element Metall. Bei diesen Organen geht es um das Loslassen. Wie der Dickdarm das Gute vom Schlechten trennt, um letzteres loszulassen, so löst sich auch im Weinen und Schluchzen die Trauer über das Organ Lunge aus der Psyche. Hält man an Vergangenem in Trauer fest, bewirkt dies depressive Verstimmungen und führt zur Disharmonie in der Lunge. Das schwächt das Lungen-Qi und somit die Funktion der Lunge, so dass Kälte, Wind und Feuchtigkeit nicht mehr genügend abgewehrt werden können. ‚Erkältungen‘ treten auf. Ein schwaches Lungen-Qi schränkt auch die Dynamik zwischen Lunge und Nieren ein, so dass Ödeme entstehen können.
Die TCM legt ihren Schwerpunkt auf die präventive, lebenserhaltende Medizin und fordert die Verantwortung für die eigene Lebensführung. Vorausgesetzt wird die Pflege des Qi, die Pflege der Lebenskraft, (Yang Qi Fa), damit wir werden, wie wir wirklich sind. Dazu gehört die Schulung von Tugend, d.h. von Mitgefühl, Demut und Ehrlichkeit. Sind diese Tugenden entwickelt, ist wenig Platz für Habgier, Neid, Eifersucht, Lügen, Selbstzweifel oder Angst vorhanden. Um die Tugenden zu entwickeln, sind Meditation, Gebet, Entspannung, Übungen aus dem Tai Ji, aus dem Yoga, aus dem Qi Gong hilfreich, nicht jedoch Wellness, Leistungssport oder Ablenkungen der verschiedensten Art.
Ein verblendetes Ego jedoch, herausgefallen aus der Harmonie von Yin und Yang, setzt uns unter Dauerstress und schwächt damit das Immunsystem. Wird das Ego transformiert, kann wieder Harmonie entstehen, sowohl im Menschen als auch in der ihn umgebenden Welt.
Der echte Mensch folgt seinem innersten Gesetz und keinem äußeren Gebot –
er hält sich an den Quell und nicht an Abwässer –
er meidet diese und sucht immer das Ursprüngliche.
… wird fortgesetzt
*Elemente: Zur chinesischen Elemente-Lehre wird in einer der nächsten Ausgaben Näheres ausgeführt.
**Dantien oder Dan Tien, auch Dan Tian: Sammelstelle des Qi
Zitiert aus Tao Te King, Lao Tse. Hrsg. Werner Zimmermann, München 1949, (1) S.40 und (2) S.41
Entnommen aus Vorträgen und Schulungen, die der chinesische Akupunkturarzt und Qi Gong Meister Zhi Chang Li in Europa gehalten hat.
Mit Dank an Ursula de Almeida Goldfarb, Schweiz, ausgebildet zur Qi Gong Lehrerin durch Zhi Chang Li, die ihre Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt hat.
Verfasst von: Brigitta Pflüger-Meienberg, Heilpraktikerin, Qi Gong Lehrerin
Entnommen Paracelsus Heath & Healing I/3
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