Die Gabe und die Prüfung des Stiers
Die Gabe der Loslösung
Der Stier lebt in seiner Bindung an die Natur und an das Ideal natürlichen Wachstums: Säen und ernten, ackern und ruhen. Alles verläuft im Rhythmus der Natur. Er selbst findet als Teil des Ganzen seinen Platz. Dort lässt er sich nieder und verwurzelt. Danach kann man ihn wie einen alten Baum nicht mehr so einfach verpflanzen. Verwurzeln bedeutet für ihn, da zu sein und da zu bleiben. Heimat ist nicht nur ein Wort, es ist für ihn sein ureigenster Ort. Keiner soll ihn von dort vertreiben. Das Seine, das ihm gehört, soll ihm niemand nehmen können. Eigentum und Besitz spielen für ihn eine große Rolle. Sie stellen die sichere Basis dar, von der aus er sich auf die Welt einlässt.
Seine Wurzeln durchdringen den Mutterboden der Materie, halten sich daran fest und machen ihn beständig und belastbar. Er arbeitet und ackert, hat aber auch Sinn für die angenehmen Dinge des Lebens. Er nutzt seinen Sinn für die Schönheit und Fruchtbarkeit der Erde. Eingewachsen in das organische Ganze, seine Heimat, seine Familie, seine Freunde und sein Umfeld, ist er ein „Herdentier“, das angenehme Nähe und zugleich eigenen Raum braucht.
Neben den schönen Aspekten hat die Natur auch ihre eigenen, ehernen Gesetze: wachsen und zerfallen, leben und sterben. Jedem Besitz folgt unweigerlich der Verlust, jeder Fülle die Leere. Gerade weil der Stier so sehr mit der Natur verbunden ist, kennt er ihre Gesetze. Dennoch stößt er hin und wieder an ihre Grenzen. Er hält dann zu lange fest an dem, was unhaltbar ist, er bleibt, wo er schon allzu lange war, und macht immer noch, was er schon längst kennt und kann.
Hier schenkt ihm der Göttliche Geist die Gabe der Loslösung. Sobald der Funke der Liebe zu etwas erlischt, ist die Zeit gekommen. Dann heißt es für den Stier loszulassen, um sich von neuer Liebe anziehen zu lassen, damit das Leben wieder in Fluss kommt: neu verwurzeln, neu begehren, neu verfestigen.
Der Stier kann das Spiel vom Werden und Vergehen transzendieren. Was ewig bleibt, sind Geist und Weisheit. Im Göttlichen Geist kann er wurzeln und in der Weisheit wohnen. Sie wird zu seiner neuen Heimat. Je mehr er sich der Weisheit zuwendet, desto klarer erkennt er hinter dem großen Schauspiel der Natur einen größeren Plan. Seine festen Meinungen gehen in einer umfassenderen Sicht auf. Zählten für ihn zuvor klare Beweise, handfeste Gründe und erprobtes Wissen, entdeckt er jetzt eine neue Klarheit in sich selbst. Was er in sich erschaut, ist ihm Beweis genug. Er löst sich von den äußeren Bezügen, auf die er einst so fest gebaut hat. Er gründet in sich selbst. Dort findet er seine wahre Sicherheit.
Loslösung bedeutet nicht, der Materie und jeglichem Komfort zu entsagen. Es bedeutet, das Verlangen und Festhalten daran zu beenden, sich frei zu machen von der Last bindenden Besitzes. Der Stier löst sich dadurch aus dem Kreislauf fortlaufender Verlusterfahrungen. Er erkennt, dass er zwar in dieser Welt ist, aber nicht von dieser Welt.
Die irdische Kraft des Stieres beruht auf seiner Beständigkeit und Unnachgiebigkeit. Das sogenannte dritte Auge liegt im Tierkreiszeichen Stier. Es ist der hell leuchtende Stern Aldebaran. Der Stier hat Zugang zu diesem hellen Licht des Göttlichen Geistes. Er wird einmal zum Träger der Weisheit. Dadurch kann er den Plan des Göttlichen Geistes hinter der Natur enthüllen. Er vermag den Plan kraft seines Willens und kraft seines Wissens über die Rhythmen der Natur mit zu verwirklichen.
Ein Stier kann oft viel mehr tragen und ertragen als andere. Diese Kraft wird ihm aber nicht allein für sich zuteil, sondern auch, um anderen etwas abzunehmen und einen gemeinschaftlichen Beitrag zu leisten.
Die Prüfung des Besitzes
Ein Stier-Geborener fühlt sich mit der Natur verbunden. Alles, was ihm zur Verfügung steht kommt von ihr: die Elemente, die Mineralien, Pflanzen oder Tiere. Der Reichtum der Natur realisiert sich aber auch durch die Menschen selbst, ihre Kulturgüter, Bauwerke, bewirtschaftete Ländereien, domestizierte Tierbestände, Infrastruktur, Maschinen. Ebenso gehören dazu sämtliche Fertigkeiten und alles Wissen, das über Jahrtausende von Menschen entwickelt, angesammelt und an Nachfolgegenerationen weitergegeben wurde.
In diesen Pool an Gütern -kurz das Vermögen der Menschheit -wird der Stier-Typus hineingeboren. Was er sein Eigen nennt, gehört ihm. Ob dies materielle Werte sind, körperliche Kräfte, geistige Fähigkeiten oder gesellschaftliche Privilegien -es ist der ihm zur Verfügung gestellte Besitz. Dieser Teil der Natur ist ihm anvertraut. Und die Natur prüft, was er daraus macht. Dazu gibt sie ihm auch die Fähigkeit mit, etwas daraus zu machen.
Eigentum verpflichtet! Damit ist gemeint, dass der Gebrauch von Privateigentum dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen, sondern diesem viel mehr zugutekommen soll. Nicht umsonst ist der Stier ein Herdentier. Ein Stier-Geborener bedarf der Gemeinschaft und schöpft aus ihrem Reichtum. Seine größte Gabe besteht darin, Naturkräfte anzuzapfen und diese planvoll in die Umgebung einfließen zu lassen. Besitz ist bei ihm in guten Händen -vorausgesetzt, er erklärt sich dafür zuständig. Sobald er sagt “das besitze ich”, wird er zum verantwortlichen Treuhänder mit allen Rechten und Pflichten.
Wer Besitz vernachlässigt, lässt ihn verfallen und veruntreut ihn. Besitz wird zweckentfremdet, wenn man ihn nur für sich nutzt, verlebt, hortet oder voller Stolz den eigenen Selbstwert darin zu erkennen glaubt. Wer sich mit dem identifiziert, was er hat, macht sich zum Spielball der natürlichen Ereignisse. Seine instinktive Natur reagiert darauf automatisch mit einem Bedürfnis nach Sicherheit.
Will der Mensch seine innere Natur leben, gilt es, Besitz fruchtbar werden zu lassen. Fruchtbarkeit ist die Methode der inneren Natur, sich Ausdruck zu verleihen. Dieser Prozess läuft oft unbewusst ab. Obstbäume etwa wissen nicht, wozu sie ihre Früchte wachsen lassen. Menschen hingegen bringen ihre Produkte und Kulturgüter bewusst hervor, um eigene und Bedürfnisse der Gemeinschaft zu erfüllen. Besitz bildet den Nährboden für Fruchtbarkeit und sein Zweck ist es, daraus etwas zu schaffen.
Wer erbt und sein Vermögen vermehrt, schafft streng genommen auch etwas. Dennoch bleibt die Frage, ob es nicht vor allem die überlassenen Erbgüter sind, die sich selbst vermehren, und einen willigen Knecht aus dem Erben machen. Etwas zu schaffen bedeutet, selbst kreativ zu sein und nicht blind einer Linie von Vorgängern zu folgen. Die innere Natur ist frei und verlangt es, sich selbst treu zu bleiben. Für sie stellen weder Tradition noch Bequemlichkeit einen Orientierungsmaßstab dar. Die innere Natur folgt allein der Liebe.
Im Mythos ist die Liebesgöttin diejenige, die den Menschen und Göttern zugleich gefällt. Sie verbindet den menschlichen mit dem göttlichen Willen. Was der Mensch wirklich liebt, wird von den Göttern gefördert. Deshalb war Aphrodite nicht nur die Göttin der Liebe und Schönheit, sondern ursprünglich auch eine Fruchtbarkeitsgöttin. Liebe macht menschliches Handeln fruchtbar. Fehlt die Liebe, beginnt der natürliche Zerfall. Dann mangelt es irgendwann am Willen, in etwas Energie hineinzusetzen.
Die innere Natur zeigt, was wirklich zu einem Stier-Geborenen gehört. Etwas, das er nicht lieben kann, ist nicht das Seine. Davon kann er getrost loslassen. An dem aber, was er liebt, kann er festhalten, sein Eigenes schaffen und alles hineinsetzen, was er hat: seine Kraft, seine Beständigkeit, seine Lebenslust, ja letztlich seinen gesamten Besitz. Dadurch setzt er neuen Reichtum frei und Qualitäten, die sein und das Leben anderer bereichern. Besitz als von der Natur und Gesellschaft anvertrautes Gut führt so zum Rückfluss in die Quelle, aus der er stammt. Dort findet sich die wahre Heimat des Stier-Geborenen. Sein Lohn als Treuhänder ist die tiefe Verwurzelung in die Gesellschaft und die Fruchtbarkeit der Natur.
Die Synthese von Gabe und Prüfung
Übernimm für alles, was du besitzt, die volle Verantwortung. Setze all deine Energie beständig und mit Bedacht ein. Achte darauf, dass auch andere davon etwas haben. Wenn du etwas nicht mehr liebst, dann löse dich rechtzeitig davon, sonst schadest du dir nur selbst. Liebe und genieße dein Leben, dann wirst du am Ende alles einfach loslassen können.
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