Die Gabe und die Prüfung des Löwen
Die Gabe der Einfachheit
Das Symbol des Löwen ist die Sonne. Sie bildet das Zentrum des Sonnensystems und verteilt ihre Energie. Alle wenden sich ihr zu: die Pflanzen, die Tiere und Menschen. Wenn sie strahlt, tanken wir auf, dankbar für das Leben, das sie spendet, dankbar für ihr Licht, das uns sehend macht, dankbar für ihre Wärme, die unser Dasein nicht erkalten lässt. Sie beherrscht unser Leben. Ohne sie könnten wir nicht sein. Sie verkörpert wahre Größe. Sie fordert nichts und gibt alles.
Ein Löwe-Typus empfindet diese Sonnenkraft auch in sich. Er hat Sendungsbewusstsein, stellt sich ins Zentrum und verteilt seine Energie. Er gibt großzügig von sich, und andere nehmen gerne von ihm. Sie spüren seine Wärme, seine Liebe und Gutherzigkeit. Alles dreht sich um ihn und organisiert sich um ihn herum. Von ganz allein entsteht daraus ein System, wie groß oder klein es auch immer sein mag. Und er ist darin König.
Einerseits genießt er es, wenn sich ihm andere zuwenden und seine Leistungen anerkennen, andererseits erwartet er es auch ein wenig. Um seine Wirkung zu verstärken, setzt er sich gekonnt in Szene. Er dramatisiert seine Ideen und verpackt seine Taten in Heldengeschichten. Das ganze Leben wird zur Bühne, über die er mit großem Pathos schreitet. Er spielt die überragende Hauptrolle, andere die Nebenrollen. Der Rest darf zuschauen und Beifall klatschen. Automatisch entsteht so ein Oben und Unten. Je nach Ausprägung kann dies zu subtiler Unterdrückung führen bis hin zu einem System, in dem andere Zwang und Unfreiheit erleiden und zu abhängigen Untertanen werden.
Das Streben nach äußerer Größe und Anerkennung entfernt den Löwe-Typus nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst. Sein wahres Wesen bleibt hinter seinen Inszenierungen und Masken verborgen. Nach außen mag er strahlen, doch nach innen lenkt er sein Licht der Aufmerksamkeit nur selten. Für keinen trifft der Spruch mehr zu, als für ihn, den sonnenhaften Löwen: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Selbstbewusst im Auftreten ist er blind für seine Eigenarten und Fehler.
Der Göttliche Geist schenkt ihm deshalb die Gabe der Einfachheit. Sie erlöst ihn von jeglichem Schauspiel, nimmt seinem Wesen alles Komplizierte und Dramatische und lässt alles übertriebene Getue beiseite. Alle Masken dürfen fallen. Übrig bleibt nur mehr er selbst.
Der griechische Mythos erzählt vom Sonnenpriester Maron im Schattenhain. Er besaß goldene Talente, einen silbernen Becher und reinsten Wein. Die wahren Talente, die schöpferische Kreativität und puren Geist findet der Löwe-Typus im Schatten seines noch unbeleuchteten Inneren. Diese Gaben treten jedoch nur zu Tage, wenn er die Masken seiner Persönlichkeit fallen lässt und das Licht seines wahren Wesens durch sich selbst scheinen lässt. Sobald der Löwe sich dieser ursprünglichen Kräfte bewusst wird, geht es ihm nicht mehr um die Beeindruckung anderer, sondern um den Ausdruck seiner Selbst. Er gibt, weil es aus ihm heraussprudelt, aus seinem Herzen, dem unerschöpflichen Quell seiner Energie. Seine Ausstrahlung ist durchdrungen von reinem, unverfälschtem Geist. Er erreicht die anderen mühelos und ohne aufwendiges „Drumherum“.
Ein idealer König wie Maron ist allen nah und erreicht jeden. Er steht nicht über dem Volk, sondern ist „einer von ihnen“. Er ragt aufgrund seiner besonderen Qualitäten unter ihnen heraus. Weil er für alle da ist, hat er das größte Herz. Und der Besonnenste ist er noch dazu. Deshalb wünschen sie, von ihm geführt zu werden. Sie heben ihn aus freien Stücken in seine Position, und er tut nichts weiter, als einfach er selbst zu sein.
Die Prüfung der Wahrhaftigkeit
Der Löwe ist der König der Tiere. Zum einen hat er im Tierreich keine natürlichen Feinde, zum anderen lebt er mit seinem Rudel, in einer Art Hofstaat, wie ein königlicher Herrscher. Warum wir ihm den Titel “König” verleihen, liegt vor allem daran, dass sein Wesen für uns Menschen das Majestätische an sich verkörpert, die Kombination aus Größe, Macht, Energie und Erhabenheit. Kein Tier ist der Natur nach so frei wie er.
Tiere folgen ihren Instinkten und machen in diesem Sinne nichts falsch. Sie sind einfach, was sie sind, und tun, was ihnen ihre körperliche Natur vorschreibt: fressen, schlafen, werben, kopulieren, brüllen, gähnen, jagen oder töten. So verstanden kann selbst ein Löwe nicht tun und lassen, was er will. Er ist durch seine Instinkte konditioniert und vollkommen in den Ablauf der Natur eingebunden.
Im Unterschied dazu verfügt der Mensch über echte Handlungsfreiheit. Er kann wirklich tun und lassen, was er will. Agiert er jedoch überwiegend gemäß seinen Instinkten, unterscheidet er sich kaum von einem Tier – außer, dass ihm sein Handeln samt Konsequenzen nachträglich bewusst wird. Wirklich Mensch zu sein bedeutet, bewusst zu handeln -und zwar so, dass man dabei seiner inneren Natur Ausdruck verleiht. Das meint Selbstbewusstsein im ursprünglichen Sinn. Die innere Natur macht das eigene Wesen aus. Sie ist das, was man dem Kern nach ist. Und die äußere Natur prüft, ob das Innere authentisch gelebt wird. Die Fähigkeit hierzu ist diesem Typus mitgegeben.
Dem Wesen des Löwe-Geborenen entspricht der volle Selbstausdruck, die Kreativität, alles aus sich selbst heraus zu schöpfen und zu sein, was er ist -mit einem Wort: Wahrhaftigkeit. Jegliche Form von Schauspiel, Maskerade oder Show läuft dem zuwider. Macht er sich zu groß, dann unterdrückt er andere und sie können nicht wahrhaftig sein. Macht er sich dagegen zu klein, kann er selbst nicht wahrhaftig sein. Es geht also um Angemessenheit im Selbstausdruck.
Zum Löwen gehören hierarchische Systeme wie Institutionen, Firmen, Behörden und Vereinigungen. Solche Systeme bergen die Gefahr von Zwang und Unterdrückung. Dies geht zulasten der Wahrhaftigkeit, insbesondere für einen Löwe-Geborenen. Ob er sich einem derartigen System unterwirft oder dessen Herrscher oder Teilherrscher ist, spielt keine Rolle. Er ist darin unfrei und in seiner schöpferischen Kraft beschnitten. Die Prüfung der Wahrhaftigkeit kann nicht gemeistert werden, wenn man in einer Firma weder tun kann, was einem der schöpferische Geist eingibt, noch aus freien Stücken sagen kann, was man will. Erst recht gelingt es nicht, wenn man anderen gegen ihren Willen vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen haben. Wahrhaftigkeit braucht Freiraum, die alle Gedanken erlaubt und ein Handeln gemäß der inneren Natur ermöglicht.
Liebe ist das natürliche Band, das alles von innen her verbindet. Menschen sind trotz aller Kriege, Feindschaft und Hass miteinander im Herzen verbunden. Wer halbherzig handelt, trennt sich von anderen und sich selbst und kann nicht wahrhaftig sein. Die wesentlichste Eigenschaft des Herzens ist, zu geben, ohne dafür bekommen zu müssen. Wenn sich der Löwe-Typus um Anerkennung oder Lob bemüht, hemmt das sein Handeln. Er ist dadurch an die Reaktion anderer gebunden und macht sich davon abhängig. Sobald dann die Anerkennung ausbleibt, nehmen seine Kraft und Herzlichkeit ab. Doch die innere Natur eines Löwe-Menschen will sich Ausdruck verleihen ,egal, ob ihn andere dafür anerkennen oder nicht. Das bedeutet Freiheit im Handeln.
Ist der Wille des Löwe-Geborenen mit seinem Herzen verbunden, gewährt ihm die Gesellschaft Freiraum für alles, was er tun möchte. Denn nichts, was andere fördert und freilässt, wird von ihnen behindert. Umgekehrt offenbaren Hindernisse oder gar Niederlagen eine Trennung sowohl von anderen als auch von sich selbst. Zwang, Faulheit, Überheblichkeit oder Ichbezogenheit mögen äußere Auslöser für Hürden sein. Im Grunde fehlt es aber an Selbsterkenntnis. Wie kann man wahrhaftig sein, ohne sich und seine innere Natur zu einem guten Teil erkannt zu haben?
Der Löwe-Typus neigt zu Eigenblindheit. Er erkennt sich selbst vor allem durch sein Tun. Was ihm verborgen bleibt, nämlich die Wirkung auf andere, kann er oft nur mithilfe seiner Mitmenschen erfahren. Deshalb ist es für ihn wichtig, offen und zwanglos nach ihren Eindrücken zu fragen. Wenn sie durch ihn Wärme, Freude und Freiheit empfinden, und er sich selbst frei fühlt, lebt er wahrhaftig seine innere Natur.
Die Synthese von Gabe und Prüfung
Sei ganz du selbst. Lasse jegliche Maskerade oder Show sein, wenn du dir selbst Ausdruck verleihen willst. Dein Herz sagt dir, was zu tun ist und gibt dir auch die Kraft dazu. Erwarte keine Anerkennung, sonst hast du nicht aus vollem Herzen gehandelt. Nutze deine Macht und Stärke auch für andere. Lasse sie deine Wärme und Liebe spüren. Dann bist du ganz in deiner Kraft.
…wird fortgesetzt
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