Wiederbelebte Alchemie
Das 17. Jahrhundert kennzeichnete sowohl die Hochblüte als auch den Untergang der Alchemie. Da sie nicht mehr länger die größten Denker zu fesseln vermochte und zunehmend an Bedeutung verlor, trat die Alchemie in den Hintergrund, um erst im 19. Jahrhundert eine starke okkulte Wiederbelebung als Reaktion auf den wissenschaftlichen Reduktionismus zu erfahren. Die Entdeckung der Radioaktivität zeigte, dass die Theorie der Umwandlung, die von der Wissenschaft so lange verneint wurde, letztlich doch kein grundlegender Irrtum war. Die Alchemie wurde mit jeder Entdeckung der Quantenphysik weiter rehabilitiert oder zumindest theoretisch diskutierbar gemacht. Die Physik hat sich nun einige der Eigenschaften der intuitiven Kunst zu eigen gemacht. Die Wissenschaft hat bewiesen, dass alles möglich ist, selbst Alchemie.
Alchemie und Psychologie
In den 1920er Jahren begann der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung Alchemie zu studieren, als er erkannte, dass viele ihrer Schlüsselsymbole in den Träumen seiner Patienten auftauchten. Seine Studien und Vorträge über alchemistische Symbolik wurden in seinem Buch Psychologie und Alchemie gesammelt.
Jungs Studium der Alchemie inspirierte sein Konzept der Individuation – die Befreiung eines Menschen aus seinem eigenen psychischen Labyrinth und die Auflösung seines persönlichen Psychodramas. Sein Hauptinteresse galt mehr der Frage, wie die Psyche auf die Rätsel der Existenz antwortet, als der Natur und dem Zweck der Schöpfung. Er erhellte das Verständnis, dass die Welt eine Widerspiegelung der innere Psyche ist, das heißt, dass jedes Individuum tatsächlich für alles verantwortlich ist, was in der äußeren Welt geschieht. Das ist der Schlüssel, um die wahre Bedeutung der Menschheit als einen Mikrokosmos zu verstehen: wie oben, so unten; wie innen so außen.
Das Fulcanelli Phänomen
1926 erschien in Paris unter dem alchemistischen Pseudonym Fulcanelli ein ungewöhnliches Buch mit dem Titel Mysterium der Kathedralen1. Dieses Buch arbeitete mit großer Autorität die Idee aus, dass die gotischen Kathedralen Europas nichts anderes waren als in Stein geschriebene Texte, die in ihrer Architektur alle Symbole des Großen Werkes enthielten. Fulcanelli deutete an, dass die esoterische hermetische Philosophie der Impuls hinter der plötzlich aufblühenden gotischen Architektur im mittelalterlichen Europa war.
Als eine der rätselhaftesten und geheimnisvollsten okkulten Figuren des 20. Jahrhunderts entdeckte Fulcanelli den lange verlorenen alchemistischen Prozess, mit dem das berühmte blau und rot gefärbte Glas von solch berühmten Kathedralen wie Chartres in Frankreich geschaffen wurde. Vor seinem Verschwinden in den 1930er Jahren soll er vor glaubwürdigen Zeugen eine Umwandlung durchgeführt haben.
Das Große Werk (Teil 1)
Das Große Werk oder Opus Magnus ist ein von den Alchemisten gebrauchter Ausdruck, um die bewussten Bemühungen zu bezeichnen, den höchsten Zustand der Reinheit zu erlangen. Der Ausdruck wird sowohl für die äußere Arbeit, die Vervollkommnung des Steins der Weisen als auch für die innere Arbeit, das Erlangen göttlichen Bewusstseins verwendet. Um auf dem Weg vorwärts zu schreiten, muss der Eingeweihte zuerst intellektuell die Natur kosmischer Wirklichkeit verstehen. Das Große Werk bezieht sich auch auf die Schöpfung selbst. Die Schöpfung materialisiert sich bis zu dem Punkt, in dem sie ein gottloses Ego erschafft, das an nichts anderes als an sich selbst glaubt. Dieser Punkt einer extremen Selbstsucht schafft ein geistiges Vakuum. Die Natur verabscheut jedoch ein Vakuum, weshalb das Ego das ganze Gewicht des Universums auf seinen Kopf herunterzieht. Geschockt über das volle Gewahrsein seiner Sterblichkeit und seiner Machtlosigkeit, erfährt das Individuum die Einweihung des Nadir, den lauten Ruf des Erwachens. Demütig startet der Eingeweihte die Suche nach der Göttlichkeit als seiner Errettung und begibt sich auf den Pfad der Rückkehr. Genauso wie der Mikrokosmos das Abbild des Makrokosmos ist, so ist umgekehrt das Große Werk des Eingeweihten der Prozess des Großen Werkes der Schöpfung.
Eins plus Null ergibt Zehn
Hermetische Numerologie kann zwar das Warum der Schöpfung nur andeuten, gleichwohl kann sie uns einen tiefen Einblick in das Was und Wie vermitteln. Die heilige Numerologie unterscheidet sich grundlegend von der Mathematik. Sie versteht Zahlen eher als Qualitäten denn als Quantitäten. Es gibt keine Brüche. Eins geteilt durch Zwei ergibt Zwei. Die Null folgt der Eins. Eins plus Null ergibt Drei. Die Zahl weissagt das Göttliche.
Es handelt sich hier um die phonetische Kabbala, die „Sprache der Vögel“, die mystische Langue Verte („Die grüne Sprache“), das wahre Kauderwelsch.
- Die Eins
Am Anfang stand die Eins: Das Absolute, Alles in Einem, das Eine in Allem. Dieses Eine ist das „Ich“ (engl. „I“) Gottes, das durch einen Stab dargestellt wird, oder in der Alchemie durch eine Schlange. Sie ist das vollkommene Symbol für die Männlichkeit. Sie ist Gott der Vater, das aktive, erzeugende Prinzip. Aber was kann man tun, wenn man alleine ist? Wie kann es Männlichkeit geben, wenn es noch keine Weiblichkeit gibt? Die Alchemie beantwortet dieses Rätsel mit einem anderen: der Figur des Oroboros, der Schlange mit ihrem Schwanz im Maul. Sie ist potentiell männlich und weiblich, sowohl „I“ wie „O“. Sie ist der Anfang und das Ende des Großen Werkes. Sie ist alles und nichts. Sie ist männlich und weiblich, und ebenso weder noch.
- Von der Eins zur Null
Um sich zu vervielfältigen, muss die Eins ihre ungeteilte Einheit opfern. Durch Meditation über sich selbst, wird „I“ zur „O“. „O“ ist das passive empfangende Prinzip, die Summe und die Matrix aller Möglichkeiten, das (unbefruchtete) Ei, das ewig Weibliche, Gott-Mutter.
- Der Logos
Dieses höchste Opfer von in sich geschlossener, undifferenzierter Einheit wird durch das Köpfen des Königs symbolisiert: „Ich“ wird zum „ich“ (engl.: „I“ becomes „i“) mit einem kleinen Punkt. Der Punkt ist der Logos, das Wort, der Same, der das Ei befruchtet.
- Es werde Licht
Die kosmische Vermählung hat stattgefunden. Das Ei wurde befruchtet und gebiert die Sonne, das Auge Gottes, nachdem auf neun gezählt wurde. Dies wird durch „O“ mit einem Punkt in der Mitte dargestellt, das Symbol des Goldes. Die Zahl der Sonne ist zehn, was den Kosmos symbolisiert, die Paradigmen der Schöpfung, Erfüllung und Vollkommenheit. Bei den römischen und chinesischen Ziffern wird zehn mit einem Kreuz („x“) dargestellt. Graphisch ist „IO“ ein archetypisches Symbol für Heirat.
Das göttliche Prinzip
Prima materia, die „ursprüngliche Materie“, ist ein göttliches Prinzip, das Absolute. Sie ist sowohl der Anfang als auch das Ende des Großen Werkes. Kein Alchemist wird je sagen, was die „Materie“ ist, weil es nicht gesagt werden kann. Sie ist das größte Rätsel und Geheimnis der Alchemie. Sie ist der ursprüngliche Stoff der Welt, das Wesentliche, das Salz der Erde. Gleichzeitig ist sie aber ätherisch und unberührbar. Dennoch werden alle sie finden, die sie mit ganzem Herzen und ganzer Seele suchen.“
Die Dualität
Das göttliche Prinzip trennt sich in zwei, um die Matrix, den Schoß der Schöpfung zu bilden, aus dem alle Dinge hervorgehen. Zwei ist Dualität, das Gesetz der Gegensätze, die dynamische Spannung des geschaffenen Universums. Es ist Licht und Dunkelheit, aktiv und passiv, hoch und niedrig, männlich und weiblich. Diese Paare werden alchemistisch von Sulfur und Merkur, dem Roten König und der Weißen Königin, der Sonne und dem Mond dargestellt.
Im ersten Buch der Hermetica beschreibt Hermes eine Vision der Schöpfung: „Ich hatte eine grenzenlose Sicht. Alles hatte sich in Licht verwandelt, ein mildes und freudiges Licht. Und ich staunte, als ich es sah. Und nach einer Weile tauchte plötzlich eine nach unten neigende schreckliche und düstere Dunkelheit auf. Danach sah ich, wie sich die Dunkelheit in eine wässrige Substanz verwandelte, die sich entsetzlich umherwälzte und Rauch von sich gab wie von einem Feuer. Und ich hörte sie einen unbeschreiblichen Jammerlaut von sich geben, da ein undeutlicher Schrei ausgestoßen wurde.“ Das ist die Spaltung des Einen, der reißende Schmerz der Trennung, wenn das Absolute in sich selbst fällt, um den Prozess herbeizuführen, der zu Manifestation führt.
Die Trinität
Dualität wird geschaffen, um die Schöpfung entstehen zu lassen. Die Vereinigung von Sulfur (Seele) und Mercurius (Geist), die Gegensätze, die durch die Dualität geschaffen wurden, erzeugt Salz (Form), das dritte Prinzip. Die Schöpfung schafft eine Dreiheit von Gott-Mutter, Gott-Vater und Gott-Sonne. Diese drei Aspekte des Absoluten entsprechen Seele, Geist und Körper, die in der Alchemie Sulfur, Merkur und Salz genannt werden. Es handelt sich dabei um philosophische Prinzipien und sie sollten nicht mit den Substanzen gleichen Namens verwechselt werden, mit denen sie nur eine sehr geringe Verbindung haben. Diese drei Prinzipien sind in allem gegenwärtig, das im Universum manifestiert ist. Tatsächlich könnte, wenn auch nur eines der Drei fehlen würde, nichts existieren. Es war Paracelsus, der, wie Rhazes Jahrhunderte zuvor, die Wichtigkeit des dritten Prinzips des Salzes zusätzlich zur traditionellen Duade von Sulfur und Merkur betonte. Salz fügt die dritte Dimension bei, die den Dingen erlaubt, sich auf dem physischen Plan zu manifestieren. Es ist das Vehikel der physischen Existenz.
Sulfur – ist das aktive, männliche, feurige, solare Prinzip. Es ist die Seele, Bewusstsein, der individuelle Geist.
Merkur – ist das passive, weibliche, wässerige, lunare Prinzip. Es ist der Geist, die Lebenskraft, der universale Klang in allen Dingen.
Salz – ist der Körper, das Empfangene, das Kind aus der Heirat von Sulfur und Merkur, der Sohn der Sonne und des Mondes. Es vermittelt zwischen den beiden, gleicht sie aus, versöhnt ihre gegensätzlichen Prinzipien, und stimmt sie aufeinander ab und macht sie miteinander verträglich. Es ist der Zweck, ohne den die Dualität keinen Sinn machen würde.
In seiner Polarität mit Sulfur ist Merkur gebunden, eindeutig und spezifiziert. Doch in sich selbst ist er geheimnisvoll, flüchtig, ambivalent und androgyn (nur wenn er in Beziehung zu Sulfur qualifiziert wird, wird er als das Weibliche festgelegt). Er ist namenlos und hat gleichwohl viele Namen: Hyle, Chaos, chaotisches Wasser, lebendiges Wasser, ewiger Brunnen, philosophischer Basilisk, und sogar prima materia, ursprünglicher Merkur. Wenn er durch Sulfur festgelegt wird, wird er zur Großen Mutter, dem Prinzip des Lebens, der vitalisierenden Lebenskraft, Prana, Chi. Merkur vermittelt auch zwischen Sulfur und Salz. Diese drei philosophischen Prinzipien drücken die Dynamik aus, die dem Universum – und allen Dingen – erlaubt zu sein und erklärt, warum Hermes als der „Dreimal Große“ bezeichnet wird, da er das dreifache Mysterium der Schöpfung gemeistert hat.
Die vier Elemente
Alles hat sein Dasein in den drei philosophischen Prinzipien von Seele, Geist und Körper. Diese Dreiheit belebt alle Dinge in der materiellen Welt. Die Dreiheit lässt die Vierheit entstehen, die vier philosophischen Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, welche die materielle Form aller manifestierten Dinge sind. Diese Elemente sollten nicht mit den Subtanzen gleichen Namens verwechselt werden; sie entsprechen auch nicht den chemischen Elementen. Sie sind keine Dinge, sondern Prinzipien und bestehen aus Paaren von vier Qualitäten: heiß, trocken, kalt und feucht.
Jedes Element teilt seine beiden Qualitäten mit einem anderen Element. Das sorgt für die Dynamik, welche die Transformation innerhalb der Materie zulässt.
Feuer – ist heiß und trocken. Es wird durch das mit der Spitze nach oben gerichtete Dreieck symbolisiert; es ist flüchtig und nach oben steigend.
Luft – ist heiß und feucht. Indem die aufsteigende Natur des Feuers unterbrochen wird, wird das Dreieck durchkreuzt.
Wasser – ist kalt und feucht. Als absteigendes Element ist sein Zeichen ein nach unten gerichtetes Dreieck.
Erde – ist kalt und trocken. Sie unterbricht den Fall des Wassers, weshalb das Dreieck unterbrochen ist.
Die Quintessenz
Die vier Elemente verbergen in sich ein fünftes Element, das als die quinta essencia, die Quintessenz oder Azoth bekannt ist. Keines der philosophischen Prinzipien ist so geheimnisvoll und unfassbar wie die fünfte Essenz oder das fünfte Element, das mit dem geheimen Feuer gleichgesetzt werden kann, dem göttlichen Funken in allen Dingen. Es ist die Göttlichkeit in allem, die innere Sonne, in der alle Dinge ihre wahre Identität finden. Paracelsus betrachtet sie als das Extrakt der Elemente, ihr unbestechliches, ewiges Substratum. Es wird von ihr gesagt, dass sie die absolute Essenz aller Dinge sei, weshalb viele alchemistische Magisteries (Produkte oder Heilmittel) Quintessenzen genannt werden, vor allem diejenigen, welche destilliert worden sind, weil Destillation die Seele und den Geist von der Materie befreit.
Die Quintessenz kann durch das Pentagramm symbolisiert werden, die Figur, welche den Kreis in vollendeter Weise unterteilt. Sie stellt den Mikrokosmos dar, das Individuum, das in sich das ganze Universum enthält.
Das Siegel Salomons
Der Legende gemäß ist das Siegel Salomons ein magisches Zeichen auf einem Ring, das Salomon vom Erzengel Raphael gebracht wurde, um ihm zu helfen, die Dämonen zu binden, welche den Bau des Tempels störten. Das Siegel Salomons ist ein Hexagramm, ein sechsstrahliger Stern, der aus zwei sich überlappenden Dreiecken besteht. Das symbolisiert die Vereinigung von Feuer und Wasser, die Hochzeit von Seele und Geist, Sulfur und Merkur, die Chemische Hochzeit. Es ist die Vereinigung von oben und unten, die Heirat zwischen Himmel und Erde, dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos, zwei werden eins.
Innerhalb des Symbols finden wir den Einen, was oft hervorgehoben wird mit dem ihn umgrenzenden Oroborus; die Duaden des Feuers und Wassers sowie oben und unten; die in den abermaligen Dreiecken enthaltene Dreiheit und die Quaterne der vier Elemente. Ebenso ist die Quintessenz als das mystische Zentrum darin enthalten, was gefunden werden kann durch die Meditation über das Symbol als ein Mandala. Es enthüllt das Hexagramm als ein anderes Symbol für Merkur, den Agenten der Ab- und Auflösung.
Die sechs Zacken des „Sterns der Weisen“ zeigen die sechs alchemistischen Himmelsrichtungen an: Norden, Süden, Osten, Westen, oben und unten, die als Paare die drei Dimensionen definieren, innerhalb derer das Große Werk geschieht.
1 Die deutsche Übersetzung ist 2004 unter dem Titel „Mysterium der Kathedralen“ bei Edition Oriflamme erschienen.
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