Einführung
Alchemie war immer schon eine mysteriöse, ja undurchsichtige Kunst. Selbst die Herkunft des Wortes „Alchemie“ ist ungewiss. Die weitläufigste Erklärung ist Khem, der ursprüngliche Name Ägyptens mit dem arabischen Präfix al, was entweder „schwarz“ bedeutet oder von der Wurzel „weise“ abgeleitet wird. Alchemie wäre deshalb die Kunst aus dem Land der Weisen, die weise Kunst.
Der Stein der Weisen
Alchemisten sehen ihre Kunst als eine heilige Wissenschaft, welche nicht nur die Geheimnisse der Natur enthüllt, sondern die Natur Gottes selbst und den ernsthaft Suchenden zur Vereinigung mit dem Göttlichen führt. Diese Union wird durch die Zubereitung des Steins der Weisen erreicht, der sowohl unedles Metall in reinstes Gold verwandeln kann als auch das Elixier der Unsterblichkeit ist, wobei der Stein für vollkommene geistige Erleuchtung steht.
Viele große Alchemisten lehren uns, dass man eine hinreichende Frömmigkeit entwickeln muss, um würdig zu sein, den Stein der Weisen zu finden. Basil Valentine sagt: „Zuerst sollte da die Anrufung Gottes stehen, die aus der Tiefe eines reinen und ernsthaften Herzens fließt, und dann ein Bewusstsein, das frei von aller Ambition, Heuchelei und Laster ist, wie auch von allen verwandten Fehlern, wie Arroganz, Dreistigkeit, Stolz, Luxus, weltlicher Eitelkeit, Unterdrückung der Armen und ähnlicher Ungerechtigkeit, welche aus dem Herzen ausgerottet werden sollte – damit ein Mensch, wenn er vor dem Thron der Gnade erscheint, um die Gesundheit seines Körpers wieder zu erlangen, mit einem Bewusstsein erscheinen möge, das von allem Unkraut befreit ist und in einen reinen Tempel Gottes verwandelt werden kann, der von all diesem Schmutz gereinigt wurde.“
Alchemistische Symbole
Die alchemistische Symbolik ist außerordentlich reichhaltig. Einige der wichtigen alchemistischen Werke wie das Mutus Liber von 1677 sind gänzlich ohne Text und enthüllen ihre Bedeutung nur durch Bilder. Symbole können eine Resonanz in uns aktivieren, die tief in uns verborgen liegt. In diesem Sinne „arbeiten“ sie, ob wir sie intellektuell verstehen oder nicht. Sie können subtile innere Wirkungen hervorrufen, die plötzliche Bewusstseinssprünge zur Folge haben. Das ist Alchemie.
Ein kurzer geschichtlicher Überblick
Hermes Trismegistus
Der „Dreimal Große“ Hermes oder Hermes Trismegistus ist das sagenumwobene Genie der Alchemie. Aus diesem Grund bezeichnen sich Alchemisten oft als Söhne des Hermes.
Thoth
Die alten Ägypter kannten Hermes Trismegistus als Thoth, die göttliche Personifizierung der Weisheit. Sie bildeten ihn als ibisköpfigen Schreiberling der Götter ab, den Erfinder der Hieroglyphen; der Herr über die heiligen Wissenschaften wie Geometrie, Mathematik, Astronomie und Medizin, vor allem aber der Alchemie. Thoth existiert auf jeder Ebene des Seins. Er dient den Göttern, geht ihnen aber auch voraus. Er hat sie in der Tat ins Sein gebracht. Er ist der selbst erschaffende Erzmagier, das Wort Gottes in Aktion. Er muss eine Sache nur benennen und sie erwacht zum Leben, „eingekleidet mit Sein“.
Der griechische Hermes
Die Griechen sahen ihren Gott Hermes als einen Aspekt von Thoth, weshalb sie ihm in Kenntnis seines Standes den Namen Hermes Trismegistus (der „Dreimal Große“) gaben. Der griechische Hermes ist der Bote der Götter, der zwischen Himmel und Erde vermittelt. Die römische Entsprechung zu Hermes ist Merkur und Alchemisten beziehen sich auf Hermes Trismegistus oft als Merkur oder Mercurius.
Die Hermetica
Hermes Trismegistus wird ein Werk zugeschrieben, das als Hermetica bekannt ist. In diesem alten theologischen, philosophischen, wissenschaftlichen und medizinischen Werk, das eine außergewöhnliche Schönheit, intellektuelle Macht und geistige Autorität besitzt, wird der Schöpfungsmythus zu einer viel ergiebigeren, ausführlicheren und ausdruckreicheren Allegorie, ein phantastischer alchemistischer Prozess. Hermes beschreibt die Menschen als ein „großes Wunder“, die fähig sind, als Einzelne Göttlichkeit zu erreichen, indem sie den Zustand des Seins überwinden, der sie vom Göttlichen trennt. Menschen haben die Ehre, wahrhaftig nach dem Ebenbild Gottes erschaffen zu sein. Sie sind der Mikrokosmos, der den Makrokosmos widerspiegelt. Alles in der Schöpfung findet seine Widerspiegelung in den Menschen, die aus diesem Grund alle Mittel zur Verfügung haben, ihre göttliche Bestimmung zu erreichen, wenn sie sich dafür entscheiden, sie anzunehmen.
Die Smaragdtafel
Auf grünem Stein geschrieben ist die Smaragdtafel oder die Tabula Smaragdina der berühmteste Text, der Hermes Trismegistus zugeschrieben wird. Für den nicht Eingeweihten scheint die Smaragdtafel ein verwirrendes kryptisches Rätsel zu sein. Von wahren Alchemisten wurde sie jedoch immer in höchsten Ehren als die vollkommenste Zusammenfassung der schöpferischen Prinzipien des Universums gehalten.
Die Inschrift lautet folgendermaßen:
„Das ist die Wahrheit, die ganze und gewisse Wahrheit,
ohne ein Wort der Lüge.
Das, was oben ist, ist das, was unten ist,
und das, was unten ist, ist das, was oben ist.
So werden die Wunder des Einen ausgeführt.
Und wie alle Dinge von dem Einen kommen,
durch Vermittlung des Einen,
so werden alle Dinge von dieser einen Sache
durch Anpassung geschaffen.
Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter ist der Mond.
Der Wind trägt es in seinem Bauch, die Erde nährt es.
Es erzeugt all die Wunder des Universums.
Seine Kraft ist vollkommen, wenn sie zur Erde gerichtet ist.
Trenne die Erde vom Feuer, das Subtile vom Groben,
behutsam und mit großem Scharfsinn.
Es steigt von der Erde zum Himmel auf und wieder hinab zur Erde,
indem es die Kraft von oben und unten verbindet.
So wirst du die Herrlichkeit des Universums erlangen.
Und alle Dunkelheit wird von dir fliehen.
Solcherart ist die Kraft aller Kräfte,
da sie alle feinstofflichen Dinge überwindet
und alle grobstofflichen durchdringt.
So wurde die ganze Welt geschaffen.
Und wunderbare Werke stehen bevor,
denn dies ist der Prozess.
Deshalb werde ich der Dreimal Große Hermes genannt,
da ich ein Meister der drei Prinzipien der universalen Weisheit bin.
Damit endet, was ich über das Werk der Sonne zu sagen habe.“
Der Caduceus – Hermesstab
Der Stab des Hermes, der auch unter dem Namen Caduceus bekannt ist, ist ein altes Symbol, das die Einheit symbolisiert, die durch die Versöhnung der Gegensätze erlangt wird. Er besteht aus zwei Schlangen, die sich um eine Säule oder einen Stab in der Mitte winden. Die beiden verbundenen Schlangen verkörpern alle gegensätzlichen Prinzipien im Spiel des manifestierten Universums: männlich/weiblich, Sonne/Mond, Seele/Geist, oder in der alchemistischen Ausdruckweise Sol/Luna und Sulfur/Mercurius. Die Säule in der Mitte stellt die Achse zwischen Himmel und Erde dar, das Oben und das Unten. Die Flügel stellen Transzendenz, die Krone göttliche Autorität und die Lilie die Dreifaltigkeit dar.
Alchemie und Yoga
Alchemie wird oft als der „Yoga des Westens“ bezeichnet, weil die Ziele von Alchemie und Yoga die gleichen sind – die mystische Vereinigung des Selbst mit dem höchsten Wesen.
Der Yoga arbeitet mit physischen und mentalen Übungen, wodurch ein Zustand vollkommener Bewusstheit und Ruhe erlangt werden soll. Er arbeitet mit subtilen Energiekanälen im Körper, die als Nadis bekannt sind. Zwei von diesen Nadis winden sich um einen zentralen Kanal, der innerhalb der Wirbelsäule entlang führt. Der rote Nadi, der Pingala genannt wird, ist männlich, solar und von Natur aus wärmend und läuft von der linken Hode (oder der linken Seite der Gebärmutter der Frau) zum rechten Nasenloch. Die Natur des hellblauen Nadis, der Ida genannt wird, ist das Gegenteil von Pingala. Er ist weiblich, lunar und kühlend und verläuft von der rechten Hode (oder der rechten Seite der Gebärmutter) zum linken Nasenloch. Der mittlere Strang, der Sushumna genannt wird, enthält in sich die beiden Entsprechungen zu Pingala und Ida. In seinem Innern ist der Brahma-nadi, der Kanal für das höchste Bewusstsein eines Individuums.
Die Parallelen zwischen den Nadis und dem Caduceus werden sofort klar. Pingala und Ida entsprechen Sulfur und Mercurius. Das Brahma-nadi entspricht dem geheimen Feuer in der Alchemie. Die Schlangenkraft, die zusammengerollte Energie, „schläft“ am Ende der Wirbelsäule. Wenn sie erwacht, steigt diese Energie der Sushumna entlang auf. Wenn die Schlangenkraft das höchste Chakra erreicht, erfährt der Yogi die Seligkeit des höchsten Bewusstseins Brahmans.
Der Oroboros
Der griechische Weise Epikur schrieb: „Das Weltall war am Anfang wie ein Ei, mit der Schlange als engem Band oder Kreis darum herum.“ Der Oroboros ist sowohl Schlange als auch Ei. Er ist Geist, der darauf wartet, beseelt zu werden; Gott Mutter, die bereit ist, das befruchtende Licht von Gott Vater zu empfangen.
Der Oroboros ist prima materia, die „ursprüngliche Materie“, aus der alle Dinge geboren werden. Es ist die notwendige Materie, mit welcher der Alchemist arbeiten muss, um den Stein der Weisen zu erschaffen. Der doppelte Oroboros verbindet zwei Schlangen, von denen eine Flügel hat. Jede beißt in den Schwanz der anderen und zusammen bilden sie einen Kreis. Das Symbol repräsentiert den großen alchemistischen Ausspruch Solve et Coagula, was „löse den Körper auf und lass den Geist gerinnen“ bedeutet. Es verkörpert die Vereinigung der Gegensätze, ein alchemistisches Yin-Yang. Es ist der Kreislauf, in dem die aufgelöste Materie allmählich verdampft und wieder kondensiert, den Geist befreit und ihn wieder einfängt, was wiederum die Materie oder den Körper verherrlicht. Die Arbeit ist vollendet, wenn „das, was oben ist, das ist, was unten ist“, das heißt, wenn die zwei Schlangen vollständig ineinander als Einheit aufgegangen sind. Die vollkommene Schlange stellt den Stein der Weisen dar.
Die Destillation von Tau, das Elixier des Lebens
Tau, die destillierte Essenz vom Himmel oben und der Erde unten, ist ein Niederschlag des Universalen Geistes oder des Heiligen Feuers, das in Indien als Prana und in China als Qi bekannt ist. Für die Druiden war er die heiligste Form von Wasser. Für die alten Chinesen symbolisierte er Unsterblichkeit, während er in der Kabbala die Auferstehung bedeutet.
Die Gewinnung von Tau:
Eine Abbildung aus dem Mutus Liber zeigt genau, wie Tau zu gewinnen ist. Über Pfosten gespannte Tücher sammeln den Tau, während aus den himmlischen Sphären Strahlen aus ätherischen Kräften herabströmen, die voller anregendem Lebensgeist sind. Es ist das Heilige Feuer, das den Tau durchdringt. Der Widder und der Stier, welche die jeweiligen Tierkreiszeichen symbolisieren, deuten an, dass es in der nördlichen Hemisphäre im Frühling, von Ende März bis Ende Mai, äußerst stark einströmt. Der Maitau wird als der wirksamste betrachtet, der vorzugsweise in klaren Nächten vor dem Vollmond gesammelt wird. Der Tau wird gewonnen, indem saubere Baumwoll- oder Leinenlaken oder Tücher verwendet werden, die etwas über dem Boden fest über die Pfosten gespannt werden. Im Morgengrauen löst man die Tücher sorgfältig von den Pfosten und wringt sie in ein großes Glas vor Sonnenaufgang aus. Der Tau wird in einen Glaskrug gefiltert (wobei ungebleichte Kaffeefilter benutzt werden), gut verschlossen und bis Mittag in die Sonne gestellt. Dann wird es in einen anderen Glaskrug passiert. Der Tau ist nun trinkfertig.
Auszüge aus:
Melville, Francis: The Book of Alchemy.
Fair Winds Press 2002.
Zusammengestellt von Simone Anliker.
Foto: © i-stock 135789
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