Aus der Kraft des Herzens
Die Zeit ist reif für ein radikales Umdenken: Statt dem Gegeneinander der verschiedenen Heilbereiche brauchen wir Modelle, in denen die unterschiedlichsten Ansätze Platz haben. Dies setzt eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen voraus sowie die Bereitschaft, immerzu Neues zu lernen. Genau dies liegt im Wesen der Psychosynthese, erklärt Gerhard Schobel in seinem Beitrag. Deshalb sei es an der Zeit, dass das Modell, das im angelsächsischen Raum längst zu den wichtigen Therapiemodellen gehört, auch in der Schweiz weiter Fuß fasst.
Stellen Sie sich vor, ihr Lieblingsbaum im Garten kränkle und trage kaum mehr Früchte. Sie bitten die vier besten Gärtner der Gegend um Rat.
Der erste Gärtner kommt zum Schluss, der Baum brauche mehr Mineralstoffe und düngt den Boden.
Der zweite Gärtner ortet das Problem im Wuchs des Baumes und schneidet den Baum in Form.
Der dritte Gärtner richtet seine Aufmerksamkeit auf das Wetter und kommt zum Schluss, der trockene Sommer sei schuld.
Der vierte Gärtner schaut die Geschichte des Baumes an, fragt nach seinem Alter, ob der Baum von selbst hier gewachsen ist oder ob er gepflanzt wurde. Er untersucht, was seine Bedürfnisse an Boden, Klima und so weiter sind. Wie ist der Baum mit dem Boden verbunden, welche anderen Pflanzen wachsen in seiner Nähe? Aufgrund all dieser Informationen wird der Gärtner einen Plan erstellen, um den Baum in seinem Wachstum zu unterstützen.
Erlösung aus dem Spagat
Als ich vor dreißig Jahren mit meiner Arbeit in der Psychiatrie angefangen habe, war ich beeindruckt von den Möglichkeiten der Medizin und der Pharmakologie. Ich bin es heute noch.
Gleichzeitig habe ich mich auch mit Schamanismus und alternativen Heilmethoden beschäftigt, die für mich ebenfalls wichtig waren. Beide Bereiche schienen mir in sich völlig stimmig. Die Schwierigkeit bestand darin, dass es einen regelrechten mentalen Spagat erforderte, diese beiden so gegensätzlichen Pole in meiner Wahrnehmung zu halten.
Dann stieß ich auf die Psychosynthese – ein Konzept, welches die verschiedenen Bereiche des Heilens miteinander verbindet. Die Psychosynthese wurde ab 1911 vom italienischen Psychoanalytiker Dr. Roberto Assagioli entwickelt. Sie basiert auf den drei Pfeilern Medizin, Pädagogik und Spiritualität.
«Psychosynthese ist keine Doktrin und keine Schule der Psychologie; es ist keine spezielle Einzelmethode der Selbstverwirklichung, Therapie oder Erziehung (…) Es gibt kein konventionelles oder orthodoxes Denken in der Psychosynthese. Und niemand, beginnend bei mir selbst, sollte als deren exklusiver oder repräsentativer Führer angesehen werden», schrieb Assagioli.
Die Psychosynthese ist eine Haltung. Assagioli wollte, dass sie sich weiter entwickelt und somit offen bleibt für neue Erkenntnisse – aus welchem Bereich auch immer! Natürlich solange die Erweiterungen ins Menschenmodell der Psychosynthese passen. (siehe Kasten).
Mit dem Herzen eines Kriegers
Wie der vierte Gärtner versucht auch die Psychosynthese, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen. Heilung besteht darin, dass wir uns in unserer Gesamtheit im Zusammenspiel mit den verschiedenen Ebenen des Bewusstseins wahrnehmen und entsprechend handeln. Dafür müssen wir aus unserer Mitte, aus unserer Herzenskraft leben.
«Um uns zutiefst zu öffnen, wie es ein echtes spirituelles Leben erfordert, brauchen wir ungeheuer viel Mut und Kraft – eine Art Kampfgeist. Der Ort, wo sich diese Kraft des Kriegers entfaltet, ist das Herz. (…) Wir brauchen das Herz eines Kriegers, damit wir uns unserem Leben unmittelbar stellen und uns direkt mit unseren Schmerzen und Grenzen, unseren Freuden und Möglichkeiten befassen können. Dieser Mut macht es möglich, jeden Aspekt des Lebens in unsere spirituelle Praxis mit einzubeziehen: Unseren Körper, unsere Familie, unsere Gesellschaft, Politik, Ökologie, Kunst, Erziehung, Ausbildung. Nur so können wir Spiritualität wirklich in unser Leben integrieren.»
Dies sagt Jack Kornfield, der bekannte amerikanische Buddhist und Autor.
Und genau dies strebt die Psychosynthese an: Ein Leben aus der Kraft des Herzens heißt nicht etwa, dass wir immerzu lächelnd und ein paar Zentimeter über dem Boden schwebend durchs Leben gehen, sondern im Gegenteil: Wenn wir den Mut haben, Kopf und Herz zu verbinden, können wir uns dem Leben bewusst stellen und uns auf alle damit verbundenen Erfahrungen einlassen.
Wir sind sowohl Gärtner als auch Baum
Wenn wir uns bewusst auf unsere Mitte, also unsere Herzenskraft besinnen, werden wir den Menschen und auch uns selbst mit Liebe und Mitgefühl begegnen. Wenn wir als Heilberufler aus dem Verständnis heraus handeln, dass Heilender und Patient zwei Seelen auf einer Reise sind, werden wir unser Gegenüber besser in seiner eigenen Kraft aktivieren können. Wir werden ihm als gleichberechtigtes Wesen gegenüber stehen. Wir werden gemeinsam den Weg der Heilung gehen, unser Gegenüber respektieren, verstehen und mit ihm zusammen neue Wege und Möglichkeiten der Heilung entdecken. Es ist diese tiefe Herz zu Herz-Verbindung, die Heilung möglich macht.
Wer sich mit Psychosynthese befasst, wird rasch merken, dass das Modell sowohl die Erkenntnisse aus der klassischen Psychologie sowie aus den Weisheitslehren der ganzen Welt aufgenommen hat. Ob Kabbala, Buddhismus, Schamanismus oder Huna – sie alle finden ihre Entsprechungen im Modell der Psychosynthese.
In der Psychosynthese wird, zur Erforschung des Unbewussten, mit einer Vielzahl an Methoden und Techniken gearbeitet, die auch aus den klassischen Therapieformen bekannt sind, z.B. Gesprächstherapie, Imagination, Tagtraumtechniken, kreativem Ausdruck, Meditation, Körperarbeit und …..
Die Psychosynthese setzt viele aktive psychologische Techniken ein, die zuerst auf die Entwicklung und Vervollkommnung der Persönlichkeit zielen und dann auf eine harmonische Koordination und zunehmende Vereinigung mit dem Selbst.
Je nach Tätigkeitsfeld, in dem sie eingesetzt wird und den verschiedenen Zwecken, denen sie dienen mag, kann Psychosynthese folgendes sein:
- Eine Methode seelischer Entwicklung und Selbstverwirklichung
- eine Behandlungsmethode für psychische und psychosomatische Störungen
- eine Methode ganzheitlicher Erziehung, die dem Kind (und dem Erwachsenen) hilft seine Fähigkeiten und seine wahre geistige Natur zu entwickeln
- ein individueller Ausdruck eines umfassenderen Prinzips, interindividueller und kosmischer Synthese.
Menschen welche den Weg der Psychosynthese gehen, und sei’s auch zeitlich sehr begrenzt, beschreiben ihre Erfahrungen immer wieder als außergewöhnlich, befreiend, als Lebendigkeit und Lebensfreude fördernd. Es ist ein positivistischer Ansatz, der die Schwächen sieht und heilt, aber den Fokus auf die Förderung der Stärken und des Potentials lenkt.
Das Menschenmodell der Psychosynthese
Abb.: Diagram:
1 Das untere Unbewusste
2 Das mittlere Unbewusste
3 Das höhere Unbewusste
4 Das Bewusstseinsfeld
5 Das Ich oder personale Selbst
6 Das höhere oder transpersonale Selbst
7 Das kollektive Unbewusste
- Das untere Unbewusste
entspricht dem Unterbewussten der traditionellen Psychologie und umfasst die elementaren physiologischen Lebensvorgänge, die Koordination unseres Körpers, die grundlegenden Triebe, die primitiven Impulse, die unbewussten Erinnerungen früherer positiver und negativer Erfahrungen, sowie verschiedene pathologische Manifestationen. - Das mittlere Unbewusste
symbolisiert die Ebene, die unserem Wachbewusstsein potentiell bewusst ist. Freud nannte diesen Bereich den Vorhof des Bewusstseins. Es ist der Raum, in dem eine Art von psychischer Vorbereitung und/oder Integration von Erfahrenem stattfindet.
- Das höhere Unbewusste
ist bisher nur in der Psychosynthese begrifflich ausführlich erfasst. Es ist das Zuhause unserer höheren Bestrebungen und Intuitionen, der höheren, aber oft latenten und unbewussten psychischen Funktionen und geistigen Energien. Es ist die Quelle des Genies und der Zustände der Kontemplation, Erleuchtung und Ekstase. Vom höheren Unbewussten kommen die Impulse und Energien, welche die Entwicklung des Einzelnen und der Menschheit insgesamt formen. - Das Bewusstseinsfeld
spiegelt die von uns im Moment bewusst wahrgenommenen Inhalte unseres Bewusstseins. Diesen Bereich erfahren wir unmittelbar über unsere Sinne. Hier nehmen wir den „unendlichen Strom des Bewusstseins“ in Form von Bildern, Gedanken, Impulsen, Gefühlen, Empfindungen und Wünschen wahr. In diesem Bereich bewerten, analysieren und beobachten wir andauernd. - Das Ich oder personale Selbst
ist das Zentrum unseres Bewusstseins, der Punkt reiner Selbstbewusstheit. Es ist der Ort des „Ich bin“. Sitz unseres wahren Willens, der uns die Freiheit gibt zu entscheiden, mit welchen psychischen Inhalten (Gefühlen, Gedanken, Glaubenssätzen, Motiven, Impulsen etc.) wir uns identifizieren oder von welchen wir uns abwenden wollen . (Zentrierung) - Das höhere oder transpersonale Selbst
ist der Punkt unseres eigentlichen Seins. Es ist unsere geistige Quelle, an dem wir „Eins-Sein“ erleben. Der Stern, zur Hälfte im Ei-Diagramm, zur Hälfte außerhalb gezeichnet – symbolisiert damit die universale und die individuelle Natur des Menschen. - Das kollektive Unbewusste
Als Menschen sind wir in Verbindung mit unserer Mitwelt. Die äußere Linie im Ei-Diagramm symbolisiert eine Abgrenzung aber keine Trennung, sie kann vielmehr als eine Membran verstanden werden, die uns in einem Prozess der „psychologischen Osmose“, in einem ständigen Austausch mit der Mitwelt hält. Es ist im Wesentlichen dem „kollektiven Unbewussten“ von C. G. Jung ähnlich, wobei wir auch im kollektiven Unbewussten im Gegensatz zu Jung eine klare Unterscheidung der verschiedenen Dimensionen treffen.
Alle Linien sind bewusst durchbrochen, um aufzuzeigen, dass es keine wirkliche Trennung gibt, sondern die Übergänge immer fließend sind.
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