Intuition ist so individuell wie Menschen einzigartig sind. Doch gleichzeitig ist sie eine uns allen immanente Kraft, die uns mit dem großen Netzwerk des Lebens verbindet. Wissenschaftler, Forscher und spirituelle Lehrer unserer Zeit sehen sie als eine Art universelle Intelligenz, als etwas das unserem Mensch-Sein zutiefst eigen ist.
Intuition ist ein allgegenwärtiger Begriff. Jeder hat schon von ihr gehört und sie gewiss auf die ein oder andere Art erfahren. Den meisten von uns werden sofort Situationen aus dem alltäglichen Leben in den Sinn kommen, die wir der Intuition zuschreiben. Der unvermittelt auftauchende Einfall, die zündende Idee für ein neues Projekt, ein innerer Impuls, der uns einen anderen Weg zur Arbeit nehmen lässt und uns plötzlich zu einer neuen Begegnung führt, das klingelnde Telefon nachdem wir zuvor intensiv an die Person gedacht haben, die just in diesem Moment zum Hörer greift. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen…
Welches Prinzip, welcher Mechanismus wirkt aber hinter solchen Ereignissen? Sie zu definieren und zu kategorisieren fällt schwer, weshalb die Intuition nicht selten als etwas Ungreifbares oder gar Mystisches abgetan wird, das sich ohnehin nicht rational erklären lässt. Doch stimmt das wirklich? Müssen wir uns mit dieser scheinbaren Unerklärbarkeit zufrieden geben?
Wissenschaftler verschiedener Sparten, von Neurobiologen und Hirnforschern über Physiker bis hin zu Gesundheitspsychologen sind sich einig: Intuition ist auch empirisch und naturwissenschaftlich erklärbar. Und das ganz ohne dabei ihren Zauber des Ungewissen und Unwägbaren zu verlieren – denn beides gehört zusammen, so meinen renommierte Forscher wie die Physiker Prof. Dr. Hans – Peter Dürr, langjähriger Direktor des Max Planck Instituts in München und Prof. Dr. Dr. Anton Zeilinger, mehrfacher Kandidat für den Physik-Nobelpreis.
Beide sind überzeugt, dass Intuition im Kontext einer quantenphysikalischen Weltsicht erklärbar ist – als ein großer geistiger Zusammenhang, ein riesiges mit Informationen gefülltes Netzwerk, an das wir alle angeschlossen, von dem wir selbst ein Teil sind. Dieses Netzwerk ist lebendig, pulsierend, in ständiger Wandlung begriffen, wie das Leben selbst. Deshalb bleiben die Komponenten der Instabilität und der Ungewissheit auch für die Intuition immer Wesensmerkmale, denn sie sind Kennzeichen von Lebendigkeit.
Intuition ist demnach etwas, das sich gleichzeitig innen und außen befindet und ein Bindeglied zwischen diesen beiden Polen darstellt.
Nähert man sich dem Begriff der Intuition ethymologisch finden wir für diese Annahme eine Bestätigung. Intuition wird abgeleitet vom lateinischen Wort „intueri“ und bedeutet so viel wie „hineinschauen, anschauen, erkennen“. Das Wort selbst verrät also bereits, dass es hier um eine Kraft geht, die offenbar in uns selbst angelegt ist und dass wir genau dorthin schauen – uns bestenfalls selbst erkennen – müssen, um ihr Wesen zu verstehen.
Wie aber kann uns das gelingen? Wir kennen verschiedene Begriffe aus unserer Alltagssprache, die allesamt verraten, dass die Intuition irgendwo anders angesiedelt sein muss als in unserem Wachbewusstsein und unseren rationalen Denkvorgängen. Die bekanntesten davon dürften das viel zitierte „Bauchgefühl“ und die „innere Stimme“ sein.
„Dass Intuition mehr ein Gefühl, eine Ahnung, ein inneres Wissen ist als ein Ergebnis gemachter Erfahrungen oder rationaler Denkprozesse“, bestätigt Prof. Dr. Ernst Pöppel, Hirnforscher und Direktor des Instituts für medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München. „Die plötzlichen Einfälle, die in den Bereich der Intuition gehören“, erklärt er, „resultieren zum Großteil aus unbewusst ablaufenden Denkprozessen, die immerhin etwa 95 % aller bei uns ablaufenden Denkprozesse ausmachen.“ Und er bestätigt: „Es gibt überhaupt keine Entscheidungsprozesse, die nur rational sind.“ Die Quelle der Intuition findet sich also in unserem eigenen Unterbewusstsein und das ist, wie man inzwischen weiß, so komplex, dass man ihm mit eingrenzenden Definitionen und „entweder-oder“ Kriterien kaum auf die Spur kommt.
„Das schließt immer die Wagnis ein, hinauszugehen in eine unbekannte Welt. Bei Intuition geht es immer um Nichtwissen.“ Thomas Gonschior
Hans-Peter Dürr bestätigt, dass Intuition keine stabile Konstante ist, auf die sich unser Verstand stützen und verlassen kann und er erklärt, warum genau diese Instabilität unsere eigentliche Lebendigkeit ausmacht:
„Leben entsteht durch einen dynamischen Ausgleich von Instabilitäten, durch Kooperation. Milliarden von Zellen wirken in uns zusammen, sie stabilisieren und stützen sich gegenseitig und nur dadurch können wir leben.“ Alles was lebendig ist, so seine Ansicht, muss ein gewisses Maß an Unsicherheit ertragen und Kontrolle abgeben können, um weiterhin flexibel auf die fortwährenden Veränderungen des Lebens zu reagieren.
Im Klartext heißt das: Wir können Intuition nicht willentlich hervorrufen, nicht bestimmen und schon gar nicht kontrollieren. Was wir aber können: Wahrnehmen, Vertrauen, uns Einlassen. Schließlich macht sie einen viel wesentlicheren Teil von uns selbst aus, als unser Verstand, von dem wir uns allzu oft diktieren und bestimmen lassen. Zudem wissen wir jetzt, dass wir über unsere Intuition an ein gigantisches Wissensnetzwerk, das alles Lebendige miteinander verbindet, angeschlossen sind. Und bekanntlich ist alles Lebendige bestrebt, sich im größtmöglichen Sinne zu entwickeln, zu gedeihen, zu entfalten. Woher also diese Angst vor dem Ungewissen, die uns immer wieder ergreift?
Wir können Intuition nicht willentlich hervorrufen, nicht bestimmen und schon gar nicht kontrollieren. Was wir aber können: Wahrnehmen, Vertrauen, uns Einlassen.
Ein Phänomen unserer Zivilisation, meint die Kulturanthropologin Dr. Christina Kessler, die während ihrer Studien viele Reisen zu den Huichol-Indianern nach Mexiko unternommen und dort längere Zeit mit ihnen gemeinsam gelebt hat. Der Zugang zur Intuition, zu unserer tiefen inneren Weisheit und das Vertrauen darauf funktioniert nur dann, wenn wir uns als Teil der uns umgebenden Welt auch wahrnehmen können. In unserer Kultur erleben sich viele Menschen inzwischen mehr vereinzelt als miteinander verbunden, das Empfinden der Natur als lebendigen Organismus ist uns mitunter ganz abhanden gekommen. Wir belächeln Naturvölker, die Tiere, Pflanzen und Elemente nicht umsonst personifizieren und sie mit „Großvater Feuer“, „Vater Sonne“ und „Mutter Erde“ in ihre direkte Kommunikation einbeziehen. Diese Bezeichnungen sind keine leeren Floskeln, sondern der Ausdruck einer direkten Verbundenheit zum Netzwerk des Lebens, zu dem man selbst gehört. Darin eingebettet ist Intuition ein ganz natürlicher, sich selbst erklärender Prozess.
Niemand würde ihn in Frage stellen – wären da nicht die bohrenden Zweifel, die vielen „Aber“ und „Vorsicht“ Warnungen unseres Verstandes. Und dieser Verstand ist in einer Gesellschaft voller Regeln, Verbote und Gesetze viel mächtiger und überbordender als in Kulturen, deren Lebensregeln hauptsächlich durch natürliche Abläufe vorgegeben werden.
„cogito ergo sum“ ist für die Gegenwart unhaltbar.
Seit dem Zeitalter der Aufklärung und dem zur Norm gewordenen berühmten Ausspruch Descartes „cogito ergo sum“, wurde uns diese wissende innere Stimme regelrecht aberzogen und in den Bereich des Metaphysischen verbannt. Natürlich hatte Descartes in Anbetracht des damaligen Weltbildes Recht – schließlich galt die Aufklärung der Befreiung aus der religiösen Unterdrückung, die den Menschen zum Sklaven eines übermächtigen Gottes deklarierte. Dass wir heute allerdings noch immer den Maßstab anlegen, der Mensch könne mit seinem Verstand alles in der Natur analysieren, in Einzelteile zerlegen und schließlich beherrschen, ist nicht nur größenwahnsinnige Ignoranz, sondern auch gefährlicher Unsinn, der sich bei einem Blick auf die Welt von selbst entlarvt.
Nun gut – wir haben es also schwieriger in unserer hochzivilisierten und technisierten Gesellschaft, diesen inneren Ahnungen, Bildern und Gefühlen zu trauen und ihnen zu folgen, wo doch offensichtlich so viele rationale Argumente stets gegen spontane Bauchentscheidungen sprechen. Wir laufen sogar Gefahr im Lärm und Tempo unseres Alltags diese Impulse gar nicht mehr wahrzunehmen und wundern uns schließlich, wenn wir uns erschöpft und frustriert in immer gleichen Abläufen wiederfinden. Ohne Intuition wird Leben zur Stagnation.
Kopf und Bauch – ein verlässliches Team
Mut zu intuitiven Entscheidungen finden wir inzwischen zum Glück auch bei mutigen Wissenschaftlern wie Prof. Gerd Gigerenzer, Psychologe am Institut für Bildungsforschung in Berlin. Gemeinsam mit weiteren Kollegen seines Fachbereichs untersuchte er über viele Jahre hinweg, wie Menschen Entscheidungen treffen. Das Ergebnis der Forschung gibt dem Bauchgefühl recht: Schnelle, intuitive Entscheidungen führen in den meisten Fällen zu besseren Ergebnissen als langwierige rationale Analysen. Und noch etwas fügt Gigerenzer hinzu, das uns beruhigen sollte. „Es geht nicht um Kopf oder Bauch, sondern immer um Kopf und Bauch.“ Die Intuition ist dabei wie ein Wegweiser, der uns in die für uns beste Richtung führt, der Verstand überprüft im Nachhinein damit wir gegebenenfalls kleine Veränderungen und Verbesserungen vornehmen können. Das Schönste daran: Wo der Weg immer weiter geht, sind alle Möglichkeiten inbegriffen. Richtungsänderung jederzeit erlaubt. Ist ein Weg zu Ende, weiß die Intuition schon längst, wo der nächste beginnt, denn das entspricht ihrer Natur.
Ist ein Weg zu Ende, weiß die Intuition schon längst wo der Nächste beginnt, denn das entspricht ihrer Natur.
Intuition als kreativer Ausweg
Nachdem wir nun also schon die Gewissheit haben, dass es sich lohnt, der eigenen Intuition auf die Spur zu kommen, stellen wir uns noch die Frage, welchen Wert sie für das Kollektiv in Zukunft haben kann. Sollten wir gesellschaftlich nicht endlich die Intuition als eigentliche Ressource von Kreativität, Empathie und Erfindungsgeist betrachten, sie mehr als alles andere fördern und ihrer Entfaltung in jedem Lebensalter Sorge tragen? Ein eindeutiges Ja hierfür gibt schon seit vielen Jahren Prof. Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe, Hirnforscher und Präsident der Sinn-Stiftung, der Pionierarbeit dafür leistet, die modernen Erkenntnisse der Hirnforschung zum Wohle der menschlichen Entwicklung einzusetzen. Er engagiert sich aktiv in den Bereichen Bildung und Erziehung, gibt anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse Impulse, wie Lernen mit Begeisterung statt Leistungsdruck und mit Kreativität statt maximaler Effizienz erfolgen kann. Wie aus begeisterten, kreativen und vor Lebendigkeit sprudelnden Kindern auch ebensolche Erwachsene werden können.
Er betont: „Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit“ und ist davon überzeugt, dass unsere Intuition uns kollektiv dabei hilft, Lösungen für Probleme zu entwickeln, die erst durch die Überbetonung der Ratio entstanden sind. Was Führungskräfte vor allem benötigen (und hiermit sind nicht nur Politiker und Unternehmensführer, sondern auch Eltern, Pädagogen und Therapeuten angesprochen) sei die Fähigkeit, andere zu inspirieren, zu ermutigen und zu begeistern. Führungskraft setzt Empathie und aufrichtiges Interesse am Gegenüber mit all seinen Potenzialen und Fähigkeiten voraus. Den sprichwörtlichen Funken, der übersprüht, den braucht es hier.
„Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Umsetzungsdefizit“ Prof. Gerald Hüther
An der Intuition führt also ganz buchstäblich kein Weg vorbei – zum Glück.
Tenzin Palmo, spirituelle Lehrerin in der Tradition des tibetischen Buddhismus, beschreibt Intuition als „ein stilles Wissen, jenseits von Worten“.
Deshalb endet nun dieser Artikel – natürlich mit einer Ermutigung, sich auf das Unbekannte einzulassen. Vielleicht lassen Sie sich inspirieren, ihrem inneren Navigationssystem zu folgen und merken auf, wenn sie mal wieder auf die Idee kommen, etwas zu tun, das ihrem Verstand zunächst völlig verrückt erscheint. Oder Sie lächeln sogar über die vielen „Aber“ und „Vorsicht“ Schilder vor ihrem inneren Auge, denn sie werden sich meist von selbst als überflüssig erweisen, wenn sie den Sprung ins Ungewisse erst einmal gewagt haben. Ich wünsche Ihnen bei dieser Entdeckungsreise eine große Portion Freude und Begeisterung!
„Es gibt eine Seinsebene in uns, die weiß.“ Tenzin Palmo
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