§266
Die Substanzen des Thier- und Pflanzen-Reiches, sind in ihrem rohen Zustande am arzneilichsten1
1 Alle rohen Thier- und Pflanzen-Substanzen haben mehr oder weniger Arzneikräfte und können das Befinden der Menschen ändern, jede auf ihre eigne Art. Diejenigen Pflanzen und Thiere, deren die aufgeklärtesten Völker sich zur Speise bedienen, haben den Vorzug eines größern Gehaltes an Nahrungsstoffen, und weichen auch darin von den übrigen ab, daß die Arzneikräfte ihres rohen Zustandes, theils an sich nicht sehr heftig sind, theils vermindert werden durch die Zubereitung in der Küche und Haushaltung, durch Auspressen des schädlichen Saftes (wie die Cassave-Wurzel in Süd-Amerika), durch Gähren des Getreide-Mehls im Teige zur Brodbereitung, des ohne Essig bereiteten Sauerkrautes und der Salz-Gurken, durch Räuchern und durch die Gewalt der Hitze (beim Kochen, Schmoren, Rösten, Braten, Backen; der Kartoffeln, durch Gahr-Sieden mittels Wasser-Dampfes), wodurch die Arzneitheile mancher solcher Substanzen, zum Theil zerstört und verflüchtigt werden. Durch Zusatz des Kochsalzes (Einpökeln) und des Essigs (Saucen, Salate) verlieren wohl die Thier- und Gewächs-Substanzen viel von ihrer arzneilichen Schädlichkeit, erhalten aber dagegen andre Nachtheile von diesen Zusätzen.
Doch auch die arzneikräftigsten Pflanzen verlieren ihre Arzneikraft zum Theil oder auch gänzlich durch solche Behandlungen. Durch völliges Trocknen verlieren alle Wurzeln der Iris-Arten, des Märrettigs, der Aron-Arten und der Päonien, fast alle ihre Arzneikraft. Der Saft der heftigst arzneilich wirkenden Pflanzen wird durch die Hitze der gewöhnlichen Extract-Bereitung oft zur ganz unkräftigen, pechartigen Masse. Schon durch langes Stehen an der Luft wird der ausgepreßte Saft der an sich tödtlichsten Pflanzen ganz kraftlos; er geht von selbst bei milder Luftwärme schnell in Weingährung über, wodurch er schon viel Arzneikraft verloren hat und unmittelbar darauf in Essig- und Faul-Gährung, und wird so aller eigenthümlichen Arzneikräfte beraubt; das sich am Boden gesammelte und ausgewaschene Satzmehl, ist dann völlig unschädlich, wie jedes andere Stärkemehl. Selbst beim Schwitzen einer Menge über einander liegender, grüner Kräuter, geht der größte Theil ihrer Arzneikräfte verloren.
Die Wirkung der Medikamente, die aus dem Tier- und Pflanzenreich gewonnen wurden, hängt vom letzten Zustand der gewählten Substanzen ab.
Erklärung
Es sollte keinen Zweifel daran geben, dass die Medikamente richtig zubereitet worden sind. Es sollte auch keinen Zweifeln darüber Raum gegeben werden, ob der Patient die Medikamente genommen hat. Deshalb ist es wünschenswert, dass die Medikamente persönlich in Wasser aufgelöst und dem Patienten auf die Zunge gegeben werden.
Die Substanzen sollten von lebenden, nicht von gestorbenen, ausgezehrten oder getöteten Tieren gewonnen werden. Dr. Hahnemann sammelte viele Medikamente selbst und bereitete sie zu. Er probierte sie an Menschen aus, nachdem er sie an sich selbst überprüft hatte. Als er die Absicht hatte, das Medikament Lachesis auszuprobieren, bekam sein Schüler Herring die Furcht einflößende Schlange zu fassen, drückte das Gift aus, ohne sich dabei Gedanken über sein Leben zu machen, bereitete die Medizin zu und probierte sie an sich selbst aus. So erfuhr er selbst die Wirkungen und präsentierte sie anschließend dem Rest der Welt. Tausende von Leben werden durch die Wirkung eines solchen Mittels heutzutage beschützt. Ähnliches gilt für pflanzliche Substanzen, d.h. wenn der Arzt sie an sich selbst ausprobiert, sind die Ergebnisse sicher.
§267
Der Kräfte der einheimischen und frisch zu bekommenden Pflanzen, bemächtigt man sich am vollständigsten und gewißesten, wenn ihr ganz frisch ausgepreßter Saft unverzüglich mit gleichen Theilen Schwamm-zündenden Weingeistes wohl gemischt wird. Von dem nach Tag und Nacht in verstopften Gläsern abgesetzten Faser und Eiweiß-Stoffe wird dann das Helle abgegossen, zum Verwahren für den arzneilichen Gebrauch1). Von dem zugemischten Weingeiste wird alle Gährung des Pflanzensaftes augenblicklich gehemmt und auch für die Folge unmöglich gemacht und die ganze Arzneikraft des Pflanzensaftes erhält sich so (vollständig und unverdorben) auf immer, in wohl verstopften, an der Mündung mit geschmolzenem Wachse gegen alle Verdünstung des Inhaltes wohl verdichteten und vor dem Sonnenlichte verwahrten Gläsern.2
1 Buchholz (Taschenb. f. Scheidek. u. Apoth. a. d. J. 1815. Weimar, Abth. I. Vl.) versichert seine Leser (und sein Recensent in der Leipziger Literaturzeitung 1816. N. 82. widerspricht nicht): diese vorzügliche Arzneibereitung habe man dem Feldzuge in Rußland (1812) zu danken, von woher sie (1813) nach Deutschland gekommen sei. Daß diese Entdeckung und diese Vorschrift, die er mit meinen eignen Worten aus der ersten Ausgabe des Organon’s der rat. Heilkunde (§. 230. und Anmerk.) anführt, von mir herrühre und daß ich sie in diesem Buche schon zwei Jahre vor dem russischen Feldzuge (1810 erschien das Organon) zuerst der Welt mittheilte, das verschweigt er, nach der edeln Sitte vieler Deutschen, gegen das Verdienst ihrer Landsleute ungerecht zu sein. Aus Asiens Wildnissen her erdichtet man lieber den Ursprung einer Erfindung, deren Ehre einem Deutschen gebührt. Welche Zeiten! Welche Sitten! Man hat wohl ehedem auch zuweilen Weingeist zu Pflanzensäften gemischt, z. B. um sie zur Extractbereitung einige Zeit aufheben zu können, aber nie in der Absicht, sie in dieser Gestalt einzugeben.
2Obwohl gleiche Theile Weingeist und frisch ausgepreßter Saft, gewöhnlich das angemessenste Verhältniß bilden, um die Absetzung des Faser- und Eiweiß-Stoffes zu bewirken, so hat man doch für Pflanzen, welche viel zähen Schleim (z. B. Beinwellwurzel, Freisam-Veilchen u.s.w.) oder ein Uebermaß an Eiweiß-Stoff enthalten (z. B. Hundsdill-Gleiß, Schwarz-Nachtschatten u.s.w.), gemeiniglich ein doppeltes Verhältniß an Weingeist zu dieser Absicht nöthig. Die sehr saftlosen, wie Oleander, Buchs und Eibenbaum, Porst, Sadebaum u.s.w., müssen zuerst für sich zu einer feuchten, feinen Masse gestoßen, dann aber mit einer doppelten Menge Weingeist zusammengerührt werden, damit sich mit letzterm der Saft vereinige, und so ausgezogen, durchgepreßt werden könne; man kann letztere aber auch getrocknet, (wenn man gehörige Kraft beim Reiben in der Reibeschale anwendet) zur millionfachen Pulver-Verreibung mit Milchzucker bringen, und dann nach Auflösung eines Grans davon, die fernern flüssigen Dynamisationen verfertigen (s. §. 271.).
Der Saft der einheimischen Kräuter sollte genommen werden, wenn sie frisch sind, und mit so viel Spiritus, wie für eine Lampe benötigt würde, gemischt werden. Er sollte dann in eine Flasche geschüttet werden, die gut verschlossen werden sollte. Diese Flasche sollte wegen fibrinöser und albuminöser Bestandteile dessen, was sich absetzt, eine Nacht und einen Tag lang ohne Bewegung stehen bleiben. Die klare Flüssigkeit wird dekantiert und zur medizinischen Anwendung aufbewahrt. Durch das Mischen mit Alkohol verderben diese Säfte nicht. Diese Methode erhält die Kraft des Medikaments. Diese Flüssigkeiten sollen in richtig verschlossenen Flaschen aufbewahrt werden, um eine Verdunstung zu vermeiden und vor Sonnenlicht zu schützen.
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