Schon im Rigveda wird Bhaya, die Urangst der materiellen Existenz, beschrieben. Wie betrachtet der Ayurveda das Gefühl der Angst und ihre verschiedenen Erscheinungsformen? Wie nutzt er die Kraft der Angst und wie harmonisiert er sie, wenn sie bedrohliche Ausmaße annimmt?
Du kannst nicht ändern, dass die Sorgen und Nöte deinen Kopf umschwirren wie Vögel.
Aber du kannst sie daran hindern, in deinem Haar Nester zu bauen.
(Aus Asien)
Angst zu zeigen wird in unserer Gesellschaft oftmals negativ bewertet. Da gibt es die Angsthasen oder die Feiglinge – für Männer schickt es sich nicht, ängstlich zu sein. Bei Frauen hingegen scheint es nach der Auffassung vieler wissenschaftlicher Studien ≪in derer Natur zu liegen≫Ängste zu zeigen. Sie werden eher toleriert und wecken den männlichen Beschützerinstinkt. Unabhängig vom gesellschaftlichen Aspekt, wird das Gefühl der Angst vom Betroffenen selbst als bedrohlich und negativ empfunden.
Das Positive erkennen
Angst umschreibt sprachwissenschaftlich Einengung, Bedrängnis – Gefühle, welche die Lebensqualität beeinträchtigen. Befreien wir die Angst jedoch von diesen einseitigen Vorstellungen und betrachten sie als das, was sie ist, gewinnen wir eine andere Perspektive: Angst ist eines der wichtigsten Grundgefühle. Sie sichert die Existenz und das Überleben. Ohne sie wären Lebewesen nicht überlebensfähig. Angst ist die Fähigkeit, eine Gefahr erkennen zu können. Daraus entwickeln sich Strategien, die den Einzelnen oder eine Gruppe bewahren und sichern. Gelingt es, die Angst als etwas grundsätzlich Positives zu betrachten und anzunehmen, wandelt sich das Verständnis für die Angst. Sie ist die Triebfeder der menschlichen Entwicklung, deren Ursache unbewusst oder bewusst wahrgenommen wird. Die Sinneswahrnehmungen sind untrennbar mit der Psyche des Menschen verbunden. Über das Beobachten und Reflektieren gelangen wir zum Erkennen und Anerkennen: ich habe Angst, was macht mir Angst, warum macht es mir Angst. Hier liegt der Schlüssel zur Auflösung der Angst verborgen.
Den Mut schulen
Ein weiterer wichtiger Aspekt fördert die Schulung des Mutes, der Angst ins Gesicht zu schauen und sie in ihrem Wesen zu erkennen. Denn unkontrollierte Angst macht blind; es gilt, die Augenbinde abzulegen. Das Erinnerungsvermögen an eine schwere seelische Belastung, einen Unfall, einen Schock, Drogen, Angst durch Medienberichterstattung oder Krankheiten – insbesondere des Nervensystems– kann die distanzierte Sinneswahrnehmung beeinträchtigen.
Auf biologisch medizinischer Ebene wird die Verarbeitung der Emotionen und der Entstehung der Angst der Amygdala, dem Mandelkern des limbischen Systems im Gehirn, zugeordnet. Die Amygdala verarbeitet Emotionen und Erinnerungen und ist für die Entstehung des Triebverhaltens verantwortlich. Wird sie zerstört, zum Beispiel durch Erkrankungen, führt dies zum Verlust von lebenswichtigen Warnsignalen und den nützlichen Abwehrreaktionen.
In vielen Naturvölkern wird durch Initiationsrituale der Umgang mit der Angst gelehrt, in unserer Kultur fehlen solche Rituale. Es stellt sich die Frage, ob Extremsportarten und der Drang nach Risiko diese Rituale ersetzen. Während die unbewusste Wahrnehmung der Angst zu unkontrollierten Abwehrreaktionen und Verhaltensmustern führen kann, ermöglicht die bewusste Wahrnehmung die Reflexion des Angstgefühls und die Entwicklung von möglichen Lösungswegen auf mentaler und physischer Ebene. Der Angst ins Auge zu sehen und durch sie hindurchzugehen gleicht einer Geburt, die durch das Nadelöhr führt. Wahrnehmung, Mut, Wille und Durchhaltekraft werden geschult.
Macht Angst Sinn?
Bei der Behandlung von Ängsten klärt die ayurvedische Psychotherapie – Sattvavajaya – ab, ob die Angst Sinn macht oder ob sie aus dem Sinnzusammenhang gelöst scheint. Der Wortstamm Sattvavajaya beinhaltet bereits den Hauptansatz der Therapie: Sattva bedeutet Klarheit, Kreativität, Leichtigkeit, Wissen, Einsicht, Verständnisvermögen, Erkennen, Liebe, Mitgefühl, Bereitschaft zu vergeben. Es geht darum, alte Denk- und Handlungsmuster, die wir auf unserem Lebensweg erworben haben, zu überdenken und auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Ziel ist, diese zu verändern oder aufzulösen, um zu unserem inneren und äußeren Gleichgewicht zurückzufinden.
≪Angst ist eines der wichtigsten Grundgefühle≫
Hat zum Beispiel ein Mensch als Kind auf sich wiederholende Erfahrungen bestimmte Denkangewohnheiten und daraus folgende Handlungen und Reaktionsmuster entwickelt, kann es sein, dass er diese als Erwachsener weiter anwendet, ohne darüber zu reflektieren, ob sie immer noch angebracht sind. Wurde beispielsweise dieses Kind immer wieder aus dem Familienverband ausgeschlossen, kann es nun sein, dass es im Erwachsenenalter ein ≪Ausgeschlossen-Sein≫verstärkt wahrnimmt und sich darauf fokussiert – es entsteht ein Muster, weil immer wieder die Erfahrung gemacht wird, ≪ich werde ausgeschlossen≫. Die vielen Ereignisse, bei denen es nicht so ist, werden kaum mehr wahrgenommen.
Es gibt keine klare Abgrenzung zwischen normaler Angst und krankhaften Angststörungen. Störungen können sich durch körperliche Symptome wie Herzrasen, Schweißausbrüche, weiche Knie, Schwindel und Engegefühl in der Brust zeigen oder in der Angst vor Lokalitäten, Tieren, Menschen, Prüfungen und Tätigkeiten. Gerät die Angst außer Kontrolle und führt sie zu einer massiven Einschränkung der Lebensqualität, ist Handlungsbedarf angesagt.
Spotlicht auf Vata
Das Therapiespektrum der ayurvedischen Behandlungsmethoden ermöglicht eine gezielte individuelle Behandlung der jeweiligen Symptombilder. Dabei wird der Bioenergie Vata – dem Bewegungsprinzip, geprägt von den Elementen Äther und Luft, das in unmittelbarer Verbindung zum Nervensystem steht – besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das feine Netz des Nervensystems reagiert auf der körperlichen Ebene auf eine heftige Erregung des Geistes, die durch Angstgefühle provoziert wird, mit Warnreaktionen. Verantwortlich für dieses Gefühlschaos, das eine Angst auslösen kann, sind die geistigen Eigenschaften Tamas und Rajas. Diese beiden Eigenschaften gehören zur Manasa Prakriti, der geistigen Konstitution, unsere psychische Verfassung. Sie wird durch die drei Qualitäten Sattva, Rajas und Tamas bestimmt.
Dabei wird Sattva zum Prinzip der Stabilität, der Reinheit, der Wachsamkeit und der Essenz; das Gefühl und die Emotionen in Ruhe und Ausgeglichenheit.
Rajas beschreibt das Prinzip der Aktivität, der Unruhe und der dynamischen Bewegung. Es verursacht Gefühle und Emotionen und ist die Kraft, die alle Bewegungen des Willens und die der Sinnes- und Bewegungsorgane steuert. Rajas ist ebenso verantwortlich für das Zusammenspiel der Gunas, es bewegt in Richtung Sattva oder Tamas, dem Prinzip der Trägheit, der Passivität, der Unwissenheit, der Schwere und der Dunkelheit.
Die drei Gunas Sattva, Rajas und Tamas agieren in einer dynamischen Wechselwirkung, sie stehen für die Höhen und Tiefen, durch die das Leben führt. Sie sind miteinander verwoben und beeinflussen einander und treiben den Menschen in seiner Entwicklung voran: Die sattvische Kraft unterstützt alle Bewusstwerdungsprozesse. Die tamasische Kraft hingegen trübt unser Bewusstsein. Um den Zustand des Gleichgewichts und der Heilung zu bewirken und spirituelles Wachstum zu unterstützen, gilt daher der Forderung der sattvischen Kraft besondere Aufmerksamkeit.
Das Prinzip ist auf allen Ebenen das Gleiche: Sattva wird gefördert, Rajas wird genutzt für die Bewegung vom Schweren hin zum Leichten. Hier setzt die ayurvedische Medizin mit ihren Vata regulierenden Behandlungsmethoden an:
Auf der geistigen Ebene begleitet die gesprächsorientierte Therapie die Wahrnehmung und Differenzierung der Ängste. Sie stellt losungsorientierte Ansätze zur Auflösung alter Denk- und Verhaltensmuster zur Verfügung. Die spirituelle Therapiearbeit erhellt den Geist und löst die Schwere von Tamas auf. Sattvische Methoden sind beispielsweise die Meditation, die Ritualarbeit, Mantras und die Edelsteintherapie. Sie heilen den Geist und nähren die Seele.
≪In unserer Kultur fehlen Rituale zum Umgang mit der Angst≫
Auf der körperlichen Ebene unterstützt eine Ernährungstherapie durch eine vor allem wärmende und leicht verdauliche Kost. Das Verdauungsfeuer wird stabilisiert und Vata reduziert. Regelmäßige, liebevoll zubereitete, gesunde Mahlzeiten in ruhiger Atmosphäre fördern Sattva, lösen Tamas und harmonisieren ein allzu bewegtes Rajas. Die individuell abgestimmten heilenden Kräuter des Ayurveda, die eine Therapie unterstützen, sollten unbedingt von einem erfahrenen Mediziner oder Heilpraktiker verordnet werden. Sie stabilisieren das Nervensystem und die Psyche.
Die Anwendungen der Manualtherapie, insbesondere die Ölbehandlungen, reinigen und beruhigen den Organismus. Sie entfalten auch eine Wirkung auf den unruhigen oder unkontrollierten Geist. Sie aktivieren und schulen eine gestörte Körper- und Sinneswahrnehmung und stärken die Selbstheilungskräfte.
Lassen Sie sich nicht entmutigen im Umgang mit der Angst. Nehmen Sie sich ihrer couragiert an, und sollten Sie sich in einem Gedankenknäuel verstricken, scheuen Sie sich nicht, Hilfe zu suchen in Form von Supervision und Beratung. Das gibt Ihnen die Chance, den Blickwinkel zu erweitern und neue Perspektiven zu eröffnen. Angst ermöglicht uns, Grenzen zu überschreiten, Verantwortung zu übernehmen, um gute Lösungen zu finden.
Kontakt:
Kerstin Tschinkowitz
Freiestrasse 44
CH-2502 Biel / Bienne
info@ayurvedabalance.ch
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