Die Gabe und die Prüfung der Waage
Die Gabe der Gelassenheit
Eines der Hauptsymbole der Waage ist die Balkenwaage. Der Waagebalken verbindet die beiden Waagschalen. Wenn sich die eine Schale bewegt, bewegt sich auch die andere. Das macht das Wesen von Beziehung aus. Eine Beziehung verbindet zwei scheinbar getrennte Ichs zu einem Wir. Geht es bei dem einen hoch, geht es bei dem anderen herunter und umgekehrt. Der eine verkörpert das, was dem anderen fehlt. Die Waage vereint Gegensätze. Beziehung ist die Kraft der Gegensatzvereinigung, die Kraft des ewigen Ausgleichs. Die einen nennen diese Kraft Karma, die anderen Schicksal. Durch sie sind wir miteinander verbunden, lange bevor wir einander begegnen. Der verbindende Waagebalken der Beziehung ist äußerlich nicht sichtbar, wir können ihn aber in uns wahrnehmen. Verbundenheit ist spürbar.
Im griechischen Mythos waren die beiden Schalen der Waage nichts anderes als die Scheren des Skorpions. Jeder Beziehung folgt unweigerlich die Transformation des Skorpions, um dann im Schützen ein gemeinsames Ziel zu finden. Thema der Waage sind vor allem Liebesbeziehungen, aber auch andere Gegensatzbeziehungen. So begegnet uns das Fremde und Unbekannte. Es will uns vervollständigen und ganz machen.
Beziehungen werden im Himmel geschlossen und auf Erden gelebt. Sie sind das Feld, auf dem das göttliche Spiel des ewigen Ausgleichs stattfindet und Gegensätze zu etwas gemeinsamem Neuen vereint werden. Die Andersartigkeit des Gegenübers, die fremden Denkwelten und ungewohnten Verhaltensweisen sollen den Horizont dieses Typus erweitern. Zugleich stellen sie seine Welt in Frage. Das kann Selbstsicherheit nehmen, Unterlegenheitsgefühle auslösen, Angst einjagen. Fremdes wird bedrohlich. Er sieht dann in anderen Eindringlinge, gegen die er sich wehren „muss“. Instinktiv hält er an seiner Meinung fest, baut mentale Mauern, die ihn von anderen trennen, sie nicht mehr heranlassen und ihn unaufgeschlossen machen. Unabhängig davon, ob er sich auf andere einlässt oder nicht, er ist mit ihnen verbunden. Er wird mit ihnen schöne und schmerzliche Erfahrungen erleben. Er kann beides zulassen. Alle Beziehungen sind längst vereinbart, alles Vermeiden und Unterdrücken sinnlos. Es stellt sich nur die Frage, ob er das göttliche Spiel zulässt und von seiner Seite alles für den Ausgleich und die Harmonie der Beziehung gibt, oder eben nicht.
Der Göttliche Geist schenkt ihm die Gabe der Gelassenheit. Sie bedeutet, Vertrauen in das Schicksal zu haben, in das göttliche Spiel, das Leichtigkeit verleiht. Das Leben will ihn mit Fülle und Schönheit belohnen. Jede Begegnung möchte ihm Einsichten schenken, ihn mit dem verbinden, wovon er sich getrennt hat. Er kann sich anderen öffnen und von ihnen bewegen lassen, sie dabei aber lassen, wie sie sind. Fühlen sich die anderen wohl, hat er seine Prüfung bestanden.
Das Schicksal ist sein Meister. Nimmt er es voll und ganz an, wird er selbst zum Meister des Lebens und findet den Meister in sich. Dieser spricht zu ihm in Form seines Herzens. Er begegnet ihm im Inneren. Wenn er seinen Verstand beiseite nimmt und mit geschlossenen Augen sein Herz sprechen lässt, verkündet es die Zukunft. Es führt ihn zu dem, was ihm fehlt und was er liebt. Das Herz weiß schon vorher, was auf einen zukommen wird. Eines Tages erkennt er so seinen Lebenstraum, seine Vision.
Das Leben dieses Typus kann ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen, völlig umgekrempelt werden. Wenn er alle Ängste überwindet, wirklich aufgeschlossen ist und ganz Ja sagt zu dem Leben, das ihm geschickt wird, kann er das göttliche Spiel in Gelassenheit genießen.
Die Prüfung der Gegenseitigkeit
Die Waage ist das Zeichen der Beziehung und der Liebe. Hier begegnet einem das, was einem fehlt. Wir stehen damit unweigerlich in Beziehung, ob uns dies nun bewusst ist oder nicht. Was uns fehlt, ergänzt uns. Die Andersartigkeit unserer Mitmenschen dient unserer Vervollständigung. Sie sind dazu da, um uns zu erweitern. Und wir wiederum vermögen sie zu erweitern, weil auch wir das sind, was ihnen fehlt. Alles zusammen ergibt das Ganze, die Fülle und Harmonie des Lebens.
So einfach Liebe und Verbundenheit zu beschreiben sind, so schwer sind sie oft im Leben umzusetzen. Die Andersartigkeit unserer Mitmenschen fordert uns heraus. Wir begegnen ihnen nicht, um zu bleiben, wie wir sind, sondern um uns von ihnen bewegen zu lassen und ihnen entgegenzugehen. Nur so verbinden wir uns mit dem, was uns fehlt. Nur so nehmen wir bewusst am großartigen Zusammenspiel der Natur teil. Wie sehr wir uns von anderen bewegen lassen und uns durch sie auf den Weg machen, zeigt, inwieweit wir Gegenseitigkeit zulassen. Anerkennen wir ihre Andersartigkeit, dann erfahren wir diese als Bereicherung für unser Leben. Die Natur prüft, ob wir uns für andere öffnen und dem Anspruch der Gegenseitigkeit auch Taten folgen lassen. Die Fähigkeit dazu hätte dieser Typus.
Der Widder steht für die Aktion und die Waage für die Reaktion. Daher ist ein Waage-Geborener naturgemäß offen für Impulse seines Gegenübers. Wenn er sich davon jedoch nicht bewegen lässt, hat er eine Art Mauer um sich gebaut. Mythologisch ist die Waage der Mauerbauer und der Widder der Mauerbrecher. Oft sind es die anderen, die dem Waage-Geborenen die Welt eröffnen und das Neue in sein Leben bringen. Deshalb darf er sich von ihnen ruhig bewegen und ein Stück mitziehen lassen.
Disharmonie ist eine Reaktion der Natur auf Bewegungslosigkeit. Das sollte ein Waage-Geborener verstehen. Ihm mag es oftmals so erscheinen, als würden andere in seine Welt einbrechen und seine Harmonie stören. Sie scheinen Schuld zu sein an seiner Disharmonie. Er erkennt dann nicht, dass sie ihn aus seinem Dornröschenschlaf wecken, ihn begeistern und bewegen wollen. Sie “stören” eine Harmonie, die in ihm längst keine mehr war. Diese Harmonie war nur mehr Stillstand und kein lebendiges Miteinander. Sich dagegen schützen und Mauern aufbauen zu wollen, ist sinnlos. Dieser Typus ist Teil des großen Spiels von Aktion und Reaktion. Seine Aufgabe darin besteht, dem Leben gelassen entgegenzusehen und Harmonie herzustellen, indem er sich selbst in Bewegung setzen lässt.
Liebe ist gegenseitige Aktivität und unablässiger Wandel. Alle Handlungen fangen sich im einer Art Reaktionsgewebe der Natur, die hierauf antwortet. Dies ist das mit uns verbundene Schicksal, das uns entgegenkommt, das Karma, wie es auch genannt wird. Wir agieren in Bezug auf andere und letztlich auch auf die sich in anderen widerspiegelnden Reaktionen unseres eigenen Handelns. Keiner kann dieser Reaktion entfliehen. Sie gehört zum Waage-Spiel des gegenseitigen Anstoßens, Aufschaukelns und Ausgleichens. Der Waage fällt dabei vor allem der ausgleichende Anteil zu. Ein Waage-Geborener vermag Gegensätze zu vereinen, indem er sich von den Impulsen anderer bewegen lässt und wandelt, und nicht, indem er Impulse unterdrückt, verdrängt oder aus seinem Leben ausschließt.
Unsere Ich-Grenze ermöglicht die Erfahrung von Gegensätzen. Je fester sie ist, desto weniger Gegenseitigkeit kann stattfinden. Zur Aufgabe des Waage-Geborenen gehört es, diese Grenze nicht aufzulösen, sondern durchlässig zu machen. Dadurch kann er bewusst und freudvoll am Miteinander teilhaben. Das macht für ihn den riesigen Organismus der Liebe, also die Verbundenheit aller durch die innere Natur, erfahrbar. Jede Form von Misstrauen und Angst blockiert diesen gegenseitigen Austausch von Energien.
Harmonie ist das Ergebnis der Liebe, das Einswerden im Akt der Teilhabe am Ganzen. Das Ganze beinhaltet uns und unsere Aktivität. Das Vertrauen in das Schicksal öffnet unser Herz und schenkt uns den Zugang zu den anderen. Die anderen wiederum eröffnen uns einen Reichtum, der uns alleine verborgen bliebe. Sie wecken in uns die notwendige Lebendigkeit, um wirkliche Harmonie erleben zu können. Durch sie erweitern wir unsere Grenzen Stück für Stück. So kann uns das Leben durch seine Wunder immer wieder überraschen und wir uns selbst in der Gegenseitigkeit immer wieder neu erfahren. Der Waage-Geborene braucht dazu nur “Ja” zu sagen.
Die Synthese von Gabe und Prüfung
Nimm in Gelassenheit an, was dir dein Gegenüber entgegenbringt. Es schenkt dir Zugang zu dem, was dir fehlt und was du liebst. Es ist an dir, dich für den anderen zu öffnen. Lass dich von ihm bewegen. Sage ja zu ihm und seiner Andersartigkeit, dann wirst du die Schönheit und die Wunder des Lebens erfahren. Dein Herz führt dich zu dem, was du liebst, um dich zu erfüllen.
… wird fortgesetzt
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