Die Gabe und die Prüfung der Jungfrau
Die Gabe der Toleranz
Der Jungfrau-Typus erlebt sich vor allem in der Gemeinschaft mit anderen. Sie sind für ihn wie Neuland, das es zu erkunden gilt. Wenn er aneckt und zurechtgewiesen wird, prägt er sich das ein. Er will mit anderen gut auskommen. Regeln für ein geordnetes Miteinander sind ihm wichtig. Sie bilden verlässliche Orientierungspunkte für allgemein anerkanntes Verhalten, an das er sich anpassen kann. Er funktioniert im gesellschaftlichen Getriebe, hat gute Umgangsformen und feine Züge, ist ordentlich und fleißig mit einem Hang zur Perfektion. Seinem Sicherheitsbedürfnis kommt das sehr entgegen. Die zuverlässige Erledigung seiner Pflichten ermöglicht ihm auch die Erfüllung seiner materiellen Notwendigkeiten.
Allerdings sieht er sich immer wieder äußeren Veränderungen ausgesetzt, die sein Leben durcheinanderbringen. Jungfrau ist das Zeichen der Krise. Dieser Typus hat schon einige davon erleben müssen. Seine stärkste Waffe dagegen ist sein scharfer Verstand. Er analysiert bis ins letzte Detail, erklärt sich jeden Sachverhalt, durchdenkt alle Konsequenzen und fügt sich meist in gegebene Situationen ein. Darin sieht er die beste Überlebenschance.
Er hofft zwar, dass sich andere ebenso an „die Regeln“ halten wie er, doch sie scheinen unabhängiger zu sein als er. Instinktiv nimmt er ihr Handeln als bestimmend an und neigt dazu, sich einzuordnen. Anpassung mag ihm materielle Vorteile einbringen, sie macht ihn aber auch abhängig von anderen und dem, was für ihn dabei abfällt. Er spürt, dass er sich nicht beliebig anpassen und dabei übergehen kann. Eingeengt unter seiner funktionierenden Oberfläche verbirgt sich für andere unsichtbar sein wahres Wesen. Er kann es nicht leugnen, sich nicht selbst verleugnen, nur um es anderen recht zu machen. Diese Erkenntnis macht ihm Angst.
Übertriebene Anpassung ist sein Versuch, etwas aufrecht zu erhalten, das er zwar nicht ist, ihn aber beruhigt. Er ist betäubt vom Zauber der schönen Oberfläche. Einst war auch die Jungfrau Kore bezaubert vom Anblick und Geruch der Narzisse. Sobald sie die Blume jedoch abgerissen hatte und ihre betäubende Wirkung nachließ, folgte der Prozess der Selbsterkenntnis. Vor Kores Augen öffnete sich die Erde und der Unterweltgott riss sie in die Tiefe. Dort verwandelte sie sich in die Unterweltgöttin Persephone. Die Krisen dieses Typus sind dazu da, seine Oberfläche aufzubrechen und sein wahres Wesen sichtbar werden zu lassen. Eine Metamorphose seiner selbst ist unausweichlich.
Der Göttliche Geist schenkt ihm hierzu die Gabe der Toleranz. Das lateinische „tolerare“ bedeutet ertragen. Für den Jungfrau-Typus gilt es, seine Wandlung zu ertragen. Er wird zur Persephone, „die die Garben schlägt“. Sie trennt die Spreu vom Weizen. Was seinem Wesen entspricht, kann er behalten, von allem Unwesentlichen muss er sich jedoch trennen. Hier heißt es, alte Zöpfe abzuschneiden und sich so zu zeigen, wie man ist –ob es den anderen gefällt oder nicht. Der Ertrag dieses Prozesses ist ein reines Gewissen, das innere Wissen, richtig gehandelt zu haben und so zu sein, wie man ist.
Die Anpassungsfähigkeit des Jungfrau-Typus bezieht sich vor allem auf sein inneres Wesen. Er muss wie Persephone in seine Unterwelt. Dort findet er alles, was er von sich selbst nicht lebt, auch alles Fehlerhafte. Wenn er es schafft, eigene Mängel zu ertragen, stören ihn auch nicht mehr die der anderen. Auch das ist Toleranz. Sie bringt ihn den anderen näher. Für ihn wird es dadurch möglich, vorbehaltlos ihre Gedanken zu verstehen und ihr wahres Wesen zu erkennen. Er spürt, wie auch die anderen ihr Inneres nicht leben können. Aus jungfräulichem Mitgefühl heraus will er ihnen dann helfen. Das ist der Augenblick des Geistesblitzes. Er weiß in diesem intuitiv, wie er anderen helfen kann, ihr Wesen zu leben. So wird er zum kundigen Seelenbegleiter, der auch andere zu einem fruchtbaren „Ertrag“ führen kann: zur Ernte ihres wahren Wesens.
Die Prüfung der Leidensfähigkeit
Die Jungfrau ist das Bindeglied zwischen Ich und Du. Von sich ausgehend lernt sie die Andersartigkeit ihrer Mitmenschen kennen. Um bei anderen nicht anzuecken, orientiert sie sich an gesellschaftlichen Vereinbarungen und Regeln. Daraus entsteht das für sie typische Anpassungsverhalten. Ihrem Bedürfnis gemäß will die Jungfrau angenommen und gebraucht werden. Instinktiv ordnet sie sich als ein funktionierendes Rädchen innerhalb der Gesellschaft ein. Dadurch lässt sie sich schnell in eine Welt voller Pflichten einbinden. Einer Art Verwertungstrieb folgend sucht sie stets nach Möglichkeiten zum Verdienst, um den Notwendigkeiten nachzukommen und sich Sicherheiten aufzubauen. Sie ist fleißig und genau, trägt Nützliches bei und vermeidet eigene Fehler.
Vermutlich würde das Leben eines Jungfrau-Typus in rein funktionaler Routine münden, wenn nicht etwas diesen Gleichlauf aus Pflichten zum Erliegen bringen würde. Für ihn gilt es, sein wahres Wesen zu erkennen und zu leben. Versäumt er dies etwa aus seinem Sicherheitsbedürfnis oder Pflichtgefühl heraus, schlittert er unweigerlich in eine Krise. Dann wird sein Leben unfruchtbar und öde. Was zuvor noch leicht von der Hand ging, wird plötzlich mühsam und schwer. Spätestens dann ist seine Wesenswandlung erforderlich. Die Krusten des verödeten Lebens müssen aufgebrochen, das bereits angelegte Potential belebt und zum Vorschein gebracht werden. Das bedeutet, alte Zöpfe abzuschneiden und alles Unfruchtbare und Öde zu beenden.
Der Jungfrau-Geborene erkennt in dieser kritischen Lebensphase, wer er sein könnte, aber noch nicht ist. Sein zum Teil verschwendetes Potential wird dabei genauso offensichtlich wie seine vergangenen Fehler. All das ruft Leid in ihm hervor. Die Natur prüft, ob er es schafft, dieses Leid aktiv zu ertragen, indem er die nötige Metamorphose vollzieht und die Fülle seines Potenzials erntet. Die Fähigkeit dazu hätte er.
Ein negativer Zugang zu dieser Prüfung ist das Zerfließen in Selbstmitleid. Fragen wie “Warum passiert gerade mir das?” helfen in keiner Weise weiter -im Gegenteil. Ein kritischer Zustand zementiert sich dadurch umso mehr. Jede Krise erfordert ein anderes Denken als jenes, das dort hineingeführt hat. Die dringendste Frage ist dann: Was in meinem Leben sollte ich beenden? Die innere Natur liefert hierauf klare Antworten. Mühelos werden einem Themen einfallen, an denen es krankt. Es ist an ihm, diese zu beenden.
Ein notwendiges Ende zu vermeiden, ist sinnlos. Dadurch wird es nur noch schlimmer. Ein Jungfrau-Geborener sollte spüren, wenn sich sein Leben zu sehr reduziert und verödet. Es geht darum, zu erkennen, was in dieser Phase nicht mehr dem eigenen Wesen entspricht. Hiervon gilt es, sich zu trennen und nach dem zu suchen, was wirklich zu einem passt. Auf diese Weise kann man seinem inneren Wesen besser gerecht werden und wieder mehr man selbst sein.
Alle irdischen Lebewesen sind dem Schmerz unterworfen. Schmerz ist eine Schutzmaßnahme des Lebens, die dem Überleben dient. Der Mensch, weil er bewusst versteht, ist auch dem Leid unterworfen. Leid ist der Wächter der verborgenen Schätze. Es zeigt, dass wir mit unserem Reichtum schlecht umgehen und uns von unserem Potenzial der Fülle entfernen. Leiden heißt, seine Reichtümer nicht zu kennen oder zu zaghaft zum Ausdruck zu bringen. Sich allzu klein und bescheiden zu geben, wird dem inneren Wesen einer Jungfrau nicht gerecht.
Ein Jungfrau-Geborener hat die Aufgabe, seine innere Natur zu erkunden und sein Leben daran anzupassen. Das erfordert die Bereitschaft, sich sein bisheriges Versagen einzugestehen und sich klar mit den Ursachen seiner Krise auseinanderzusetzen. Eigene Fehler durch eine Oberflächenpolitur zu verbergen, ist sinnlos. Entscheidend ist der Akt der Wiedergutmachung. Im Grunde kann alles wieder gut gemacht werden: jedes Versagen, jeder Fehler. Gnade ist das stets mögliche Geschenk, ohne Altlast neu anfangen zu dürfen. Gnade schenkt einem den Mut, sich zu erheben und seine Metamorphose zu vollziehen.
Das Gewissen der Jungfrau steht für das innere Wissen um ihr Potenzial. Es ist eine Art Frühindikator. Gegen sein Gewissen zu handeln, ist Handeln wider besseren Wissens und führt auf Dauer zu Leid. Ein reines Gewissen reagiert auch auf das Leid anderer. Ihnen aus freien Stücken zu helfen, beschleunigt die Wandlung der Jungfrau enorm. Nichts verbindet sie stärker mit ihren Mitmenschen und ihrer eigenen inneren Natur. So kommt es zu den Wundern des Lebens, ja zur Gnade, die alle Fehler und alles Versagen von einem nimmt, um mit sich selbst ganz im Reinen sein zu können.
Die Synthese von Gabe und Prüfung
In dir steckt mehr, als du glaubst. Wenn dein Leben dich lähmt oder in öde Routine mündet, ist es Zeit zur Veränderung. Krisen helfen dir, leblose Gewohnheiten zu durchbrechen. Leid ist für dich ein Hinweis, dass du deinen inneren Reichtum nicht lebst. Wenn du das Leid erträgst, leblos Gewordenes beendest und deine Metamorphose vollziehst, bricht erneut eine fruchtbare und glückliche Phase an.
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